Arbeitsmarkt: Gewinner*innen und Verlierer*innen des Wandels

Die Herausforderungen, die wir derzeit bei der beruflichen Integration von Migrant*innen beobachten, lassen erahnen, mit welchen Dynamiken Belegschaften zukünftig konfrontiert werden.

Unsere Arbeitswelt verändert sich rasant. Flexiblere Arbeitsverträge, Online-Plattformen als wachsende Marktplätze für die verschiedensten Arbeitsaufträge, häufige Karrierewechsel und Berufsbilder, die im Zuge der tiefgreifenden Digitalisierung sich entweder grundlegend verändern (Lehrkräfte), neu entstehen (zahlreiche IT-affine Jobs, von Suchmaschinenoptimierung bis hin zu Big-Data-Analyse) oder von vollständiger Automatisierung bedroht werden (Bankangestellte und zahlreiche Berufe im mittleren Qualifikationsbereich).

Digitalisierung: 18 % der Jobs sind bedroht

Laut OECD-Schätzungen sind 14 % aller Jobs in den 36 OECD-Mitgliedsstaaten in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren von Automatisierung bedroht – in Deutschland aufgrund des stark ausgeprägten verarbeitenden Gewerbes sogar bis zu 18 %. Auch die Qualität der Arbeitsverhältnisse wandelt sich stark: Innerhalb der EU sind unbefristete Beschäftigungsverträge in Vollzeit mit knapp 60 % zwar immer noch die Mehrheit aller Erwerbstätigkeitsformen. Deren Gewicht nimmt allerdings kontinuierlich ab (um vier Prozentpunkte in den letzten 15 Jahren) zugunsten von befristeter Arbeit, Teilzeitarbeit und weiteren Formen von kurzfristigeren, prekäreren Arbeitsverhältnissen.

Flexibilität und Geschwindigkeit werden wichtiger

Der Wandel der Arbeitswelt ist jedoch nicht nur von Digitalisierung geprägt. Weitere „Megatrends“ wie Globalisierung, Demographie, Wertewandel und natürlich Einwanderung und wachsende gesellschaftliche Vielfalt spielen eine entscheidende Rolle. Zum Beispiel werden Flexibilität und Geschwindigkeit von wachsender Bedeutung für Unternehmen, die einen zunehmend globalen (und daher besonders volatilen) Markt bedienen – was sich z.B. in einer Zunahme von Leih- und Werkverträgen widerspiegelt. Gleichzeitig ändern sich die die Ansprüche von Beschäftigten an die eigene Arbeit: Vor allem werden diese Ansprüche immer vielfältiger, je nachdem, wie man seine Lebensplanung gestaltet und in welcher Sphäre des Lebens man Selbstverwirklichung sucht. Für die einen ist Flexibilität gleich Selbstbestimmung, für andere geht sie eher mit Unsicherheit einher.

Diskussion dreht sich oft um lebenslanges Lernen

In Deutschland und anderen Industrieländern wird derweil intensiv diskutiert, wie sich all diese Veränderungen in verschiedenen Bereichen auswirken werden – von Bildung und Arbeitsmarktförderung bis hin zu psychischer Gesundheit – und welche politischen Antworten sie erfordern. Dabei dreht sich die Diskussion sehr oft um Fragen des lebenslangen Lernens oder der Festigung des Arbeits- und Sozialschutzes in den prekären, fluiden Grauzonen der schönen neuen Arbeitswelt – der so genannten „Gig economy“.

Integration ist ein Langstreckenlauf

Seltener wird jedoch die Frage gestellt, welche Folgen dieser Wandel für die berufliche Integration von Migrant*innen haben könnte. Angesichts der Tatsache, dass das Verständnis von „Integration als Langstreckenlauf (und nicht als Sprint)“ inzwischen zum Allgemeinplatz der Integrationspolitik in Deutschland geworden ist, wundert es schon, dass dieser proklamierte lange Atem nicht automatisch mit einer weitsichtigen, dynamischen Betrachtung des Arbeitsmarktes einhergeht, denn auf eben diesem Arbeitsmarkt soll ja die berufliche Integration letztlich erfolgen.

Jobs von Zugewanderten aus Drittstaaten der EU besonders gefährdet

Dass Migrant*innen immer noch erhebliche Hürden beim Arbeitsmarktzugang erfahren, ist wohlbekannt: In der EU liegt die durchschnittliche Erwerbsquote von Drittstaatlerinnen und Drittstaatlern laut Eurostat bei 63 %, gegenüber 73 % bei Inländerinnen und Inländern (in Deutschland bei 66 % ggü. 82 %). Neulich zeigte eine Studie der Gemeinsamen Forschungsstelle (JRC) der Europäischen Kommission und der Universität von Salamanca außerdem, dass Zugewanderte aus Drittstaaten in der EU fast dreimal so oft in Berufen konzentriert sind, die besonders stark von Automatisierung bedroht sind, wie Staatsangehörige mit vergleichbarem Alter und Qualifikation; des Weiteren seien sie viel öfter in temporären Arbeitsverhältnissen, die kaum Zugang zu Weiterbildung bieten und einem wirtschaftlichen Schock am schnellsten zum Opfer fallen. Beim aktuellen Status quo fällt daher die Antwort auf die Frage, wie tiefgreifende Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt die berufliche Integration von Migrant*innen beeinflussen werden, eher ernüchternd aus: Sie könnten zu den Hauptverlierer*innen gehören.

Unterschiedliche Szenarien zum Wandel der Arbeitswelt

In einem 2018 veröffentlichten Bericht des „Migration Policy Institute Europe“ haben Meghan Benton und der Autor dieses Textes versucht, die Verknüpfung zwischen Arbeitswandel und Arbeitsmarktintegration stärker herauszuarbeiten. Anhand von vier Szenarien, vom pessimistischeren (ungezügelte Digitalisierung, wachsende Arbeitsmarktpolarisierung) bis hin zum hoffnungsvolleren (florierendes Kleinunternehmertum), haben wir Chancen und Risiken des Wandels der Arbeitswelt für die Integration von Migrant*innen reflektiert.

Plattformarbeit birgt Chancen und Risiken

Diese Szenarien sind nicht prädiktiv, sondern dienen lediglich als Werkzeuge, um plausible Zusammenhänge zu erkennen. Wir wissen zum Beispiel, dass Plattformarbeit (von Fahrtenservices und Fahrradlieferdiensten bis hin zu Übersetzungstätigkeiten) mehrere Risiken birgt: schwache soziale Absicherung, schlechter Zugang zu Weiterbildung, niedrige Löhne und geringe Aufstiegschancen. Andererseits kann sie Neuzugewanderten einen leichteren Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten eröffnen, als es über klassische Rekrutierungskanäle der Fall wäre, da z.B. geringe Sprachkenntnisse, fehlende formale Qualifikationen oder gar Diskriminierungserscheinungen im Auswahlverfahren als Hürden gewissermaßen entschärft bzw. umgangen werden.

Flexible und modulare Weiterbildungslösungen werden wichtiger

Bei der Analyse dieser Szenarien kam eine interessante Parallele zum Vorschein: Die Herausforderungen, die wir derzeit bei der beruflichen Integration von Migrant*innen  beobachten, lassen möglicherweise erahnen, mit welchen Dynamiken Belegschaften insgesamt auf einem sich rapide wandelnden Arbeitsmarkt konfrontiert sein werden. Wo Karrierewechsel immer mehr die Norm sind, werden flexible, modulare, gut zugängliche Weiterbildungslösungen in allen Phasen des Berufslebens immer wichtiger – ein Zusammenhang, der z.B. auf Geflüchtete mit ihren teils unterbrochenen Berufsbiographien bereits zutrifft.

Soft Skills kommt eine größere Bedeutung zu

Auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft werden auch die Erfassung und Transferierbarkeit von Kompetenzen immer zentraler für alle Beschäftigten: nicht nur über geografische Grenzen hinweg, wie es bereits bei Migrant*innen der Fall ist, sondern auch von einer Branche in eine andere. Wirtschaft und Forschung sind sich einig: Überfachliche, transferierbare Schlüsselkompetenzen (also „Soft Skills“ wie kritisches Denken, Belastbarkeit und Resilienz, ausgeprägte Lernfähigkeit) werden in den kommenden Jahrzehnten auf dem Arbeitsmarkt an Bedeutung gewinnen – was im Umkehrschluss bedeutet, dass immer präzisere Instrumente benötigt werden, um diese Kompetenzen abzubilden.

Spezielle IT-Weiterbildung für Geflüchtete

Dies deutet darauf hin, dass eine vorausschauende Arbeitsmarktpolitik auch neuere Entwicklungen in der Integrationspolitik und -praxis stets im Blick behalten sollte. Einige Innovationen, die in den vergangenen Jahren für Geflüchtete entwickelt wurden – wie in den Bereichen Modularisierung, Lernen am Arbeitsplatz oder Sensibilisierung von Arbeitgebern für eine realistischere Einschätzung der Anforderungsprofile ihrer Stellen – können auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft durchaus breiteren Kreisen von Arbeitenden oder Arbeitsuchenden zugutekommen. So wurde zum Beispiel das Digital Career Institute (DCI), ein deutsches Aus- und Weiterbildungsprogramm für IT-Programmierung, 2016 nur für Geflüchtete gegründet (damals noch als „Devugees“); inzwischen ist DCI ein zertifizierter Träger der Arbeitsförderung und kann somit arbeitsuchenden Menschen ohne spezielle Vorkenntnisse einen schnellen Zugang zu einer boomenden Jobbranche bieten.

Fachkräftestrategie ist ein positives Zeichen

Gleichzeitig sollte Integrationspolitik langfristige Entwicklungen in der Arbeitswelt mit beachten, um zu vermeiden, dass Investitionen in berufliche Aus- und Weiterbildung ein schnelles Verfallsdatum haben. Die Kristallkugel, um die Zukunft der Arbeit eindeutig zu erkennen, gibt es zwar nicht – dafür aber methodisch fundierte Schätzungen, die zum Beispiel in den nächsten Jahrzehnten einen Rückgang von Jobchancen auf den niedrigen und mittleren Qualifikationsebenen prognostizieren. Die Ende 2018 verabschiedete Fachkräftestrategie der deutschen Bundesregierung ist in diesem Zusammenhang ein positives Zeichen, denn sie kann Politik und Wirtschaft dabei helfen, das Themenfeld Einwanderung und Integration stärker mit weiteren zentralen Zukunftsfragen wie Digitalisierung, lebenslanges Lernen und Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verknüpfen.

Über den Autor

Liam Patuzzi war bis Mai 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei MUT IQ und zuständig für Internationales. Seit Juni arbeitet er als Analyst im Brüsseler Büro des Thinktanks „Migration Policy Institute Europe“.

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