Vielfältig engagiert, breit vernetzt

Migrant*innenorganisationen sind ein wichtiger Teil der Zivilgesellschaft – doch auf die Fragen, wie viele es in Deutschland gibt und welche Aufgaben sie übernehmen, gibt es bisher kaum gesicherte Antworten. Diese Wissenslücken hat 2020 eine Studie des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) geschlossen. Im Interview erläutern die Studienautor*innen Dr. Nils Friedrichs und Dr. Marie Mualem Sultan die wichtigsten Ergebnisse.

Herr Friedrichs, Frau Mualem Sultan, Sie und Ihr Team haben 2020 in einer Studie die Landschaft der Migrantenorganisationen (MO) in Deutschland untersucht. Ziel der Studie war, migrantisches Engagement in seiner Größenordnung und Vielfalt sichtbar zu machen. Welches Ergebnis Ihrer Forschung hat Sie am meisten überrascht?

Nils Friedrichs: Überrascht hat uns einerseits der verglichen mit früheren Untersuchungen recht hohe Anteil an Organisationen, deren ehrenamtliches Engagement durch bezahlte Mitarbeitende unterstützt wird. Nur 41 % arbeiten rein ehrenamtlich und immerhin knapp 37 % haben festangestellte Mitarbeitende in Voll- oder Teilzeit.

Zum anderen hat die Vielfalt der Organisationslandschaft im Hinblick auf differenzierte Engagementmotivationen oder auch die Kombination von Engagementfeldern überrascht. Dies ist etwa der Fall bei einer Kulturorganisation, die sich aufgrund eines akuten Bedarfs im Herkunftsland nun entwicklungspolitisch engagiert.

Marie Mualem Sultan: Es gab einen weiteren Befund, bei dem ich ganz besonders aufgemerkt habe: Denn unsere Ergebnisse bestätigen einerseits, dass MO-Vereine weit mehr sind als Akteur*innen der Integration. Sie arbeiten zu vielen Themen und verfügen häufig über besondere Expertise, z. B. in bildungs- oder jugendpolitischen Fragen.

Trotzdem sind sie derzeit noch vergleichsweise wenig in entsprechende Fachverbände eingebunden. Genau das könnte aber sinnvoll sein, z. B. auch um die Wahrnehmung jenseits von Integrationsthemen zu erhöhen. Zukünftige Studien sollten meines Erachtens noch einmal genauer hinschauen, woran eine eigentlich sinnvolle Einbindung in Fachverbände mitunter scheitert bzw. wie sie verbessert werden kann.

Welche Wissenslücken über MO hat die Studie geschlossen?

Friedrichs: Unsere Studie hatte das Ziel, einen praxisrelevanten Überblick über die Größe, Struktur, Potenziale und Bedarfe der MO-Landschaft in Deutschland herzustellen. Dazu haben wir versucht, in vier Bundesländern systematisch alle MO zu identifizieren und bundesweit alle überregional organisierten MO-Verbände. Dadurch hatten wir eine sehr solide Datenbasis für die anschließende Onlinebefragung und eine Schätzung der Gesamtzahl von MO in Deutschland.

Mit den Befunden aus der Onlinebefragung und ergänzenden Interviews mit MO-Vertreter* innen konnten wir gesichertes Grundlagenwissen, z. B. über zentrale Engagementfelder, Arbeitsweisen und Herausforderungen der MO-Landschaft vorlegen.

Mualem Sultan: In diesem Überblick und der differenzierten Datenbasis liegt der zentrale Mehrwert unserer Studie. Frühere Studien hatten sich häufig z. B. auf alle MO in einem bestimmten Bundesland, ein konkretes Engagementfeld oder eine bestimmte Herkunftsgruppe fokussiert. Es fehlte aber eine breite und überregionale Übersicht.

Nach der Studienveröffentlichung haben wir in Gesprächen mit Menschen aus der Praxis deshalb oft gehört: „Vieles aus Ihrer Studie haben wir bereits geahnt, aber nun haben wir es endlich einmal Schwarz auf Weiß und mit konkreten Zahlen“.

Inwieweit hat die Untersuchung bisherige Annahmen über MO widerlegt?

Mualem Sultan: Öffentlich und medial hält sich leider zum Teil bis heute ein Bild von MO als potenziellen Räumen der Abschottung und Segregation von Menschen mit Migrationshintergrund. Das widerlegen unsere Daten eindeutig. Es ist nicht nur so, dass sich zahlreiche MO aktiv für eine Gestaltung des Zusammenlebens in Deutschland engagieren.

Fast alle machen außerdem auch Angebote für Nicht-Mitglieder und fast die Hälfte gibt an, dass auch Menschen ohne Migrationshintergrund ihre Angebote häufig nutzen. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung schätzte die Anzahl der MO in Deutschland 2011 auf 20.000.

In Ihrer Studie heißt es, dass in Deutschland schätzungsweise zwischen 12.400 und 14.300 existieren. Wie sind diese Unterschiede zu erklären? Unterschiedliche Definitionen von MO?

Friedrichs: Die Unterschiede haben auch mit der Definition zu tun. Vor allem spielen aber die verwendeten Datenquellen und das methodische Vorgehen eine Rolle. Zum Beispiel bezieht sich die von Ihnen genannte Zahl über 20.000 u. a. auf eine Auswertung des Ausländervereinsregisters. Dieses erfasst schlicht alle Vereine, die von Personen ohne deutschen Pass gegründet wurden. Das ist aus unserer Sicht alleine noch nicht ausreichend, um einen Verein als MO zu klassifizieren.

Die in der bisherigen Forschung ebenfalls häufige Arbeit mit dem Handelsregister, in dem alle Vereine gelistet sind, ist wiederum fehleranfällig, da MO in ihrer Vereinsnamensgebung extrem vielfältig sind und daher nicht vollständig zuverlässig über Suchbegriffe ermittelt werden können.

Unsere Herangehensweise ermöglichte uns demgegenüber zwar ziemlich präzise Aussagen über die Anzahl der MO in den von uns untersuchten Bundesländern. Die auf diesen Daten aufbauende Schätzung der Gesamtzahl ist dafür naturgemäß mit gewissen Unsicherheiten behaftet.

Wie definieren Sie eigentlich MO?

Mualem Sultan: Diese Frage hat uns zu Beginn unseres Projekts im Team und auch im Austausch mit Vertreter*innen aus der MO-Landschaft in der Tat intensiv beschäftigt. Schließlich haben sich drei Definitionskriterien als zentral erwiesen, um sowohl unseren Forschungszielen gerecht zu werden als auch im Sinne größtmöglicher Anschlussfähigkeit an eine mehrheitliche Idee von MO im wissenschaftlichen, politischen und zivilgesellschaftlichen Diskurs:

Eine Organisation wurde als MO in unsere Datenbank aufgenommen, wenn sie 1) mindestens zur Hälfte von Menschen mit eigener oder familiärer Zuwanderungsgeschichte getragen wird oder mindestens gegründet worden ist; 2) sich eine Migrationserfahrung als im weitesten Sinne von zentraler Bedeutung für das Engagement darstellt und 3) es sich um eine gemeinnützige Organisation handelt, also eine Organisation ohne Profitstreben.

Obwohl diese Definition sehr breit ist, hat sie einen blinden Fleck. Denn aus forschungspraktischen Gründen mussten wir uns auf Organisationen mit eigener Rechtsform beschränken. Nicht formalisierte MO und insbesondere Online Communities haben wir nicht untersucht. Diese genauer in den Blick zu nehmen, wäre z. B. sehr spannend für zukünftige Forschungsprojekte.

Laut Ihrer Studie wurden die meisten Migrantenorganisationen in Deutschland nach 1990 gegründet; ein Viertel erst nach 2012 – ein überraschender Befund. Wie ist es zu erklären, dass der MO-Gründungsschub in der Geschichte der Bundesrepublik erst vergleichsweise spät einsetzte?

Friedrichs: Zunächst muss man festhalten, dass MO in Deutschland keinesfalls ein „neues“ Phänomen sind. Bereits in den 1970er Jahren gründeten sich zahlreiche MO vor allem der Zugewanderten mit griechischem und spanischem, etwas später auch derjenigen mit türkischem Migrationshintergrund. Auch darf man nicht vergessen, dass zahlreiche Organisationen sich nach einiger Zeit auch wieder auflösen.

Wir können also gar nicht sagen, wie viele MO es zu früheren Zeiten gegeben hat. Dass viele der heute existierenden MO vergleichsweise jung sind, hängt vor allem mit sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen zusammen. Zum Beispiel haben sich nach 2015 in Deutschland viele Selbstorganisationen von Geflüchteten gegründet. In den neuen Bundesländern konnten MO zudem überhaupt erst nach der Wiedervereinigung gegründet werden, da dies Zugewanderten in der DDR untersagt war.

Können Sie aufgrund von Studien zu MO in anderen europäischen Staaten einordnen, ob es in Deutschland vergleichsweise viele oder wenige MO gibt?

Mualem Sultan: Nein, wir haben keine Vergleichszahlen aus anderen Ländern analysiert. Unsere Studie war wirklich vollständig auf Deutschland bezogen. Mitunter werden in der Öffentlichkeit religiöse Vereine als typische MO wahrgenommen.

Inwieweit deckt sich diese Sichtweise mit den tatsächlichen Aktivitätsfeldern von MO?

Friedrichs: Unsere Studie zeigt, dass MO prinzipiell in nahezu allen Bereichen zivilgesellschaftlichen Engagements aktiv sind; Religion ist dabei ein wichtiges aber keineswegs zentrales oder gar für die ganze Landschaft repräsentatives Handlungsfeld. In unserer Befragung gaben z. B. knapp 15 Prozent an, schwerpunktmäßig auch religiöse Angebote zu machen; bei Bildungsangeboten waren es hingegen 42 Prozent. Vereine, die ausschließlich der Religionsausübung dienen, haben wir auch nicht als MO klassifiziert, sondern nur wenn sie sich zusätzlich auch schwerpunktmäßig für migrationsbezogene Belange einsetzen.

Welche Schwerpunkte hat das zivilgesellschaftliche Engagement von MO?

Mualem Sultan: Auch wenn das Engagement von MO nahezu das gesamte Spektrum zivilgesellschaftlichen Engagements abdeckt, zeigen sich z. B. klare Schwerpunkte im sozialen und im Bildungsbereich. Eben deshalb ist es wichtig, MO auch jenseits von Integrationsfragen wahr und ernst zu nehmen.

Insgesamt spricht aus unseren Daten außerdem ein starker Bezug der MO-Landschaft auf Fragen des Zusammenlebens in Deutschland. Zum Beispiel bildete die am häufigsten genannte Aktivität mit über 45 Prozent das Engagement für den Austausch zwischen Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte.

Richten sich die Angebote von MO nur an die eigene Community?

Mualem Sultan: Nein, keineswegs. Zunächst gaben gut 96 Prozent der MO an, dass sie auch Angebote für Nichtmitglieder machen und gut 43 Prozent geben an, dass ihre Angebote auch oft von Menschen ohne Migrationshintergrund genutzt werden. Das bedeutet: Wir sehen mit Blick auf die Angebote und die Nutzer*innen-Seite insgesamt eine große gesamtgesellschaftliche Offenheit der MO-Landschaft.

Welche Netzwerke haben MO? Mit welchen Partner*innen kooperieren sie?

Friedrichs: MO arbeiten eigentlich so gut wie nie isoliert, sondern sie verfügen in der Regel über ein recht breit gefächertes Netzwerk. Besonders häufig ist die Kooperation mit anderen Vereinen, sowohl anderen MO als auch Vereinen jenseits der MO-Landschaft. Zwei Drittel der von uns befragten MO gaben außerdem an, auch im regen Austausch mit ihrer jeweiligen Stadtverwaltung zu stehen. Und ebenfalls etwa zwei Drittel organisieren sich in Dachverbänden.

Welche Ziele verfolgen MO dabei?

Mualem Sultan: Die Kooperationen mit unterschiedlichen Partnerinnen und Partnern dienen in der Regel auch unterschiedlichen Zwecken. Mit anderen Vereinen arbeiten MO z. B. besonders häufig zusammen, um gemeinsam Fördermittel einzuwerben oder Räume anzumieten.

Die Anbindung an Dachverbände dient demgegenüber vor allem dazu, an relevanten Kommunikationsflüssen teilzuhaben und die Vernetzung voranzutreiben. Die Beziehung zur Stadt ist häufig auch eine Beziehung zwischen Fördermittelgeber und Zuwendungsempfänger.

Wie finanzieren die MO ihre Arbeit? Von welchen Stellen erhalten sie Fördermittel?

Friedrichs: Zwar erheben die meisten der von uns befragten MO Mitgliedsbeiträge. Diese sind jedoch häufig niedrig und eher symbolisch. Hierin unterscheiden sie sich maßgeblich von anderen Vereinen, für die Mitgliedsbeiträge die wichtigste Einnahmequelle darstellen.

Migrantenorganisationen stellen relativ häufig Förderanträge und sie sind dabei auch vergleichsweise erfolgreich. Etwa 70 Prozent der von uns befragten MO gaben an, im Jahr 2019 Fördermittel erhalten zu haben, wobei diese zunächst hohe Zahl natürlich auch Kleinstbeträge einschließt.

Mualem Sultan: Gefördert werden Migrantenorganisationen dabei in erster Linie durch öffentliche Stellen und vor allem von den Kommunen. Bund und Land sind mitunter aber ebenfalls wichtige Fördermittelgeber. Private Fördermittel spielen demgegenüber weniger eine Rolle bzw. allenfalls in der Form von Stiftungsförderung.

Gibt es thematische Schwerpunkte bei der Förderung?

Friedrichs: Unsere Daten sprechen dafür, dass Projekte aus den Bereichen Beratung, Unterstützung für Geflüchtete oder Antidiskriminierungsarbeit gegenüber anderen Engagementfeldern eine signifikant höhere Chance auf Förderung haben.

Etwas weniger Förderung gibt es beispielsweise in den Bereichen Kinderund Jugendarbeit oder Pflege der Herkunftskultur. Eher selten werden religiöse Aktivitäten gefördert. Das erklärtsich teilweise durch die Förderkriterien, bei denen religionsbezogene Projekte häufig ausgenommen sind.

Wünschen sich MO mehr Unterstützung und institutionelle Förderung?

Mualem Sultan: In unserer Onlinebefragung wurden bei der Frage nach konkretem Unterstützungsbedarf in der Tat häufig Punkte hervorgehoben, die mittelbar oder unmittelbar mit den Themen Finanzierung und Förderung zusammenhängen.

Viele MO wünschen sich z. B. längerfristige Förderungen, da die häufig recht kurzen Projektlaufzeiten große Planungsunsicherheit mit sich bringen. Betont wurde auch der Wunsch nach mehr direkter Unterstützung und weniger Bürokratie bei der Antragstellung und dem Management von Fördermitteln.

Welche Handlungsempfehlungen zur Stärkung von MO leiten Sie aus den Ergebnissen der Studie ab?

Friedrichs: Uns war wichtig, Handlungsempfehlungen sowohl für MO als auch für Politik und übrige Zivilgesellschaft zu formulieren. Eine gewisse Lücke sehen wir, wie eingangs bereits von Frau Mualem Sultan hervorgehoben, z. B. darin, dass MO noch nicht hinreichend in fachspezifische Strukturen eingebunden sind. Daher sollten Fachverbände aktiv um MO als Mitglieder werben und ihnen niedrigschwellige Zugänge ermöglichen, etwa über geringe Mitgliedsbeiträge.

MO sollten ihren Blick aber ebenfalls erweitern und sich proaktiv in diese Strukturen einbringen. Das schließt auch Überlegungen dazu ein, Weiterqualifizierung und Anerkennung, z. B. als Träger der freien Jugendhilfe, anzustreben.

Dabei brauchen MO aber wiederum auch die Unterstützung von Fördermittelgebern und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen. Auch sollten Förderprogramme außerhalb des Integrationsbereichs auf mögliche diskriminierende Strukturen hin überprüft werden.

Mualem Sultan: Neben diesen wichtigen, auf Mainstreaming ausgerichteten Punkten, halten wir es aber auch für sinnvoll, Unterstützungsangebote, die sich vor allem an MO richten, fortzuführen und auch auszubauen. Wir denken dabei vor allem an Formate wie das der Houses of Resources, deren Profil sich mit vielen der von MO als zentral beschriebenen Bedarfen deckt.

Sie beraten z. B. zu Themen wie der Beantragung von Fördergeldern oder Projektmanagement. Darüber hinaus können sich gerade kleine und rein ehrenamtlich getragene MO relativ unbürokratisch an sie wenden, um z. B. technisches Equipment auszuleihen oder Räume für Veranstaltungen anzumieten. (fe)

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