"Alle wollen arbeiten"

Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine klingeln bei Club Dialog ständig die Telefone. Die Berliner Migrantenorganisation ist Teil des Netzwerks IQ und berät Menschen zur
Anerkennung ihrer Abschlüsse. Im Interview erläutert Projektleiterin Julia Merian, mit welchen Anliegen sich ukrainische
Geflüchtete an sie wenden.
 

Als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine angegriffen hat, haben Sie da schon geahnt, dass die Telefone bei Club Dialog bald ständig klingeln werden?

Julia Merian: Als der Krieg begann, hat Club Dialog sofort eine Hotline eingerichtet. Da ging es noch nicht um die Anerkennung von ukrainischen Abschlüssen, sondern um andere Fragen. Es wusste ja niemand, was auf uns zukommt. Nach drei Tagen haben wir mit Kolleginnen der Hotline diese Gespräche ausgewertet. Wir wollten uns einen Überblick verschaffen, mit welchen Anliegen sich die Anrufer*innen an uns wenden. Die erste Frage vieler Geflüchteter war: Dürfen wir in Deutschland arbeiten? Das zeichnet diese Zielgruppe wirklich aus: Alle wollen arbeiten. Da war uns schon klar, dass Anerkennungsberatung ein sehr wichtiges Thema werden würde, denn die Geflüchteten  wissen nicht, wie sie in Deutschland eine bildungsadäquate Arbeit finden können. Nach vier Tagen haben wir ein Konzept für die Anerkennungsberatung entwickelt. Da waren die ersten Geflüchteten schon in Berlin.

Wie sah dieses Konzept aus?

Merian: Wir sind davon überzeugt, dass die Angebote für die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine niederschwellig und in ihrer Muttersprache durchgeführt werden müssen. Im Mittelpunkt stand deshalb, dass die Geflüchteten täglich von neun bis 15 Uhr ohne Voranmeldung zu uns kommen können. Unsere Berater*innen sprechen ukrainisch und russisch auf Muttersprachniveau, denn Menschen aus Osteuropa sind traditionell unsere Zielgruppe. Wir kennen auch die osteuropäischen Bildungssysteme sehr gut.

Normalerweise kommen wahrscheinlich Menschen zu Ihnen, die sich lange darauf vorbereitet haben, nach Deutschland zu gehen. Das war bei den Geflüchteten aus der Ukraine sicher anders...

Merian: Richtig, sie haben sich natürlich nicht vorbereitet, weil sie sich innerhalb weniger Stunden zur Flucht entschieden haben. Die Menschen waren traumatisiert. Sie kamen aus Kriegsgebieten. Dennoch haben die meisten Geflüchteten ihre Diplome dabei, die für die Anerkennung ihrer Abschlüsse sehr wichtig sind.

Gibt es weitere Besonderheiten, die diese Gruppe auszeichnen?

Merian: Über 90 Prozent der ukrainischen Geflüchteten sprechen kein Deutsch. Es gab für sie keinen Grund, Deutsch zu lernen. Sie wussten auch nichts über das deutsche Bildungssystem, über soziale Leistungen des Staates. Fast alle waren Frauen im erwerbsfähigen Alter, mit einem oder zwei Kindern, teilweise mit Mutter oder Schwiegermutter. Unsere Statistik zeigt auch, dass über 70 Prozent der von uns beratenen Menschen aus der Ukraine Hochschulabschlüsse haben. Ein großer Teil ist auch mehrfach qualifiziert.

In welchen Fachrichtungen haben die Geflüchteten Abschlüsse?

Merian: Interessant ist, dass ganz viele Geflüchtete Abschlüsse in Jura haben. Das hat uns überrascht.

Weshalb?

Merian: Ich arbeite seit 2005 im Netzwerk IQ, und wir hatten in keiner anderen Gruppe so viele Jurist*innen. Aber ich habe keine Erklärung dafür. Wir hatten auch sehr viele nicht-reglementierte Hochschulabschlüsse wie zum Beispiel Betriebswirtschaft. Oder Pädagogik, und das freut uns, denn wir arbeiten mit der Berliner Senatsverwaltung für Bildung zusammen, um ukrainische Pädagog*innen und Lehrer*innen für die Willkommensklassen für ukrainische Kinder zu finden.

Mit welchen Fragen zur Anerkennung wenden sich ukrainische Geflüchtete an Sie?

Merian: Da unterscheidet sich diese Gruppe nicht von anderen Ratsuchenden. Sie möchten wissen, ob sie ihr Diplom anerkennen lassen können. Ob sie auch ohne Anerkennung arbeiten dürfen. Oder wie die Anerkennung in reglementierten Berufen funktioniert.

Wollen viele der Geflüchteten in Deutschland bleiben?

Merian: Ganz viele haben gesagt, sie wollen zurück. Es sind sehr viele Frauen mit Kindern nach Deutschland gekommen, die ihre Männer, ihre Brüder, ihre ganze Familie in der Ukraine zurückgelassen haben. Diese Frauen möchten zurückkehren. Aber es gab auch junge Leute, zum Beispiel Studierende, die sich vorstellen können, in  Deutschland zu bleiben.


Die Fragen stellte Markus Fels. Das Gespräch mit Julia Merian wurde im Juli 2022 geführt.

Weitere Informationen:
https://www.club-dialog.de/de/

Julia Merian ist stellvertretende Geschäftsführerin von Club Dialog e. V. und Leiterin des IQ Projekts „Fahrplan Anerkennung beruflicher Abschlüsse“.

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