Geflüchtet, um zu bleiben?

Ein Plädoyer für qualifikationsadäquate Beschäftigung und Vermeidung von Prekarisierung für ukrainische Geflüchtete - Teil 1

Im vorliegenden Beitrag analysiert die IQ Fachstelle Einwanderung die bisherigen Tendenzen der Arbeitsmarktintegration von Zugewanderten aus der Ukraine. Es soll ein Beitrag zur besseren Einordnung der aktuellen Migrationsdynamik in Folge des Ukraine-Kriegs und zukünftiger Potenziale für den deutschen Arbeitsmarkt geleistet werden. Hierzu werden in einem ersten Schritt das sozio-demografische Profil, die Arbeitsmarktbeteiligung und das Einkommensniveau von ukrainischen Staatsangehörigen in Deutschland bis Mitte 2021 dargestellt. In einem zweiten Teil (Juni 2022, hier verfügbar) werden Arbeitsmarktdaten nach Berufen und Abschlüssen in der Ukraine vor Ausbruch des Krieges erörtert.

31.03.2022

Redaktion: Paul Becker; Doritt Komitowski

Kontakt: IQ Fachstelle Einwanderung, fe(at)minor-kontor.de

 


Der Krieg in der Ukraine hat bisher insgesamt 3.901.713 Menschen in die Flucht getrieben (Stand 28.03.2022). Für ukrainische Geflüchtete, die seit dem Krieg nach Deutschland geflohen sind, wurde mit der sogenannten „Massenzustrom-Richtlinie“ der EU eine mehrjährige Aufenthaltsmöglichkeit geschaffen. Das Recht der Geflüchteten auf Schutz und humanitäre Unterstützung sollte sich zum zentralen Pfeiler des politischen Handelns in Deutschland und der EU etablieren. Gleichzeitig kann davon ausgegangen werden, dass ein Teil der Geflüchteten auch mehr als nur eine kurze Zeit in Deutschland bleiben wird. Somit bedarf es für diese Menschen auch einer mittel- bzw. langfristige Perspektive zur Teilhabe an der Gesellschaft, Bildung und Arbeit.

Um Unternehmen, Gesellschaft und die Politik auf diesen Prozess gut vorzubereiten, sind genauere Daten und Erkenntnisse zu den mitgebrachten Qualifikationen und Potenzialen auf der einen Seite sowie zu der Aufnahmefähigkeit der regionalen Arbeitsmärkte auf der anderen Seite dringend erforderlich. Wer sind die Geflüchteten, die aus der Ukraine aktuell nach Deutschland kommen, hinsichtlich Alter und Geschlecht, familiärer Situation, Ausbildung und beruflichen Erfahrungen? In welchen Berufsbereichen können sie aktuelle Bedarfe der Unternehmen in Deutschland erfüllen? Derzeit ist es noch zu früh, um diese Fragen abschließend beantworten zu können. Erste Aussagetrends kann jedoch die Untersuchung der Arbeitsmarktintegration von Zugewanderten aus der Ukraine in Deutschland vor dem Krieg liefern.

Erste Analysen der Qualifikationen und Integration in den Arbeitsmarkt von in Deutschland bereits vor dem Krieg lebenden Personen mit ukrainischem Migrationshintergrund zeigen, dass diese zum großen Teil gut qualifiziert und in den Arbeitsmarkt integriert sind. So hatte rund die Hälfte der Personen mit ukrainischem Migrationshintergrund einen akademischen Hochschulabschluss; 14 % verfügten über berufsbildende Abschlüsse und weitere 26 % über eine höhere Schulbildung (Brücker et al. 2022: 14ff.).

Im vorliegenden Paper stellt die IQ Fachstelle Einwanderung im interaktiven Online-Format das sozio-demografische Profil, die Arbeitsmarktbeteiligung und das Einkommensniveau von ukrainischen Staatsangehörigen, die bis Mitte 2021 bereits in Deutschland gelebt haben, genauer dar:

  1. Russland war 2019 mit Abstand das Land mit den meisten Migrant*innen aus der Ukraine weltweit (UNPD 2019). Deutschland lag 2019 mit 241.486 weltweit auf Platz 5 und zeigte gegenüber 2015 ein Wachstum der Zahl der ukrainischen Migrant*innen von 9,4 % (Abbildung 1).­
  2. Zum 31.12.2000 lebten in Deutschland deutlich mehr Frauen als Männer im arbeitsfähigen Alter aus der Ukraine (Abbildung 2).
  3. Zu den Top-5-Bundesländern nach der Anzahl ukrainischer Staatsangehörigen gehörten zum 31.12.2020 Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg, Berlin und Hessen (Abbildung 3).
  4. Ukrainische Staatsangehörige waren im Vergleich zu deutschen und anderen Drittstaatsangehörigen überdurchschnittlich häufig in den Wirtschaftszweigen Immobilien, freiberufliche, wissenschaftliche und technische Dienstleistungen; Heime und Sozialwesen; Gesundheitswesen; Information und Kommunikation; sonstige Dienstleistungen und private Haushalte sowie Erziehung und Unterricht beschäftigt (Stichtag 30.06.2021) (Abbildung 4).
  5. Anteilig an allen Drittstaatsangehörigen waren sozialversicherungspflichtig beschäftigte, ukrainische Staatsangehörige überdurchschnittlich häufig in folgenden Wirtschaftszweigen vertreten: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei; Information und Kommunikation; Finanz- und Versicherungsdienstleistungen; sonstige Dienstleistungen, private Haushalte; Erziehung und Unterricht; Immobilien, freiberufliche, wissenschaftliche und technische Dienstleistungen; Heime und Sozialwesen; Gesundheitswesen sowie Öffentliche Verwaltung, Verteidigung, Sozialversicherung, Externe Organisation (Stichtag 30.06.2021) (Abbildung 5).
  6. Gemessen am Medianeinkommen aller beschäftigten Drittstaatsangehörigen verdienten ukrainische Staatsangehörige mit anerkannten und akademischen Abschlüssen weniger, Helfer*innen und Spezialist*innen sogar deutlich weniger im Vergleich zu anderen Drittstaatsangehörigen im gleichen Anforderungsniveau (Stichtag 30.06.2021). Das Median­einkommen beim Anforderungsniveau Experte lag dagegen über dem Medianeinkommen aller Drittstaatsangehörigen (Abbildung 6).
  7. Ukrainer*innen waren bisher im Schnitt überdurchschnittlich häufig im Niedriglohnbereich (Sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte unterhalb der bundeseinheitlichen Schwelle des unteren Entgeltbereichs) tätig: Verglichen mit Beschäftigten mit deutscher Staatsangehörigkeit ohne Berufsabschluss waren sie insgesamt 14,4 %-Punkte häufiger im Niedriglohnbereich beschäftigt. Auch bei anerkannten oder akademischen Berufsabschlüssen lagen die Anteile im Niedriglohnbereich bei den Ukrainer*innen deutlich über den entsprechenden Werten aller Drittstaatsangehörigen und Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit (Stichtag 30.6.2021) (Abbildung 7).
  8. Bei den Anforderungsniveaus Helfer, Fachkraft und Spezialist waren ukrainische Staatsangehörige ebenfalls häufiger im Niedriglohnbereich beschäftigt als Drittstaatsangehörige und Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Lediglich beim Anforderungsniveau Experte lag der Anteil der beschäftigten Ukrainer*innen im Niedriglohnbereich etwas unter dem Niveau aller Drittstaatsangehörigen. Verglichen mit Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit waren jedoch auch ukrainische Expert*innen deutlich häufiger im Niedriglohnbereich beschäftigt (Abbildung 7).

Es bleibt abzuwarten, ob und in welchem Umfang die aufgezeigten Trends auch auf die Geflüchteten im Zuge des Krieges und ihre zukünftige Beteiligung am Arbeitsmarkt zutreffen werden. Es spricht vieles dafür, dass der Anteil der Frauen sogar deutlich ansteigen wird, da derzeit überwiegend Frauen und Kinder aus der Ukraine ihren Weg nach Deutschland finden. Diese bringen auch Abschlüsse und Qualifikationen nach Deutschland, an erster Stelle sind es jedoch Menschen auf der Flucht, die humanitär versorgt werden müssen. Ihr Eintritt in den Arbeits- und Ausbildungsmarkt ist im größeren Umfang erst zeitverzögert zu erwarten. Um diesen von Beginn an möglichst fair und ausbildungsadäquat zu gestalten, sollten Instrumente und Maßnahmen zur Verfügung gestellt werden, um unterqualifizierte Beschäftigung mit deutlich schlechterer Entlohnung zu vermeiden und dem entgegenzusteuern. Es gilt, Prekarisierungs- und Ausbeutungsrisiken bei schneller Arbeitsaufnahme entgegenzuwirken. Die Erfahrungen aus den Integrationsprozessen im Zuge der Fluchtdynamik 2015/2016 liegen vor, die Strukturen, Maßnahmen und Instrumente wurden bereits auf- und ausgebaut und können genutzt werden. Neben einem zügigen Zugang zum Spracherwerb müssen auch das Anerkennungsverfahren für mitgebrachte Qualifikationen und Abschlüsse weiter beschleunigt sowie Möglichkeiten zur beruflichen Aus-/Fort-/Weiterbildung, u. a.  durch Unterstützung der Betriebe, bereitgestellt werden. Aber auch die Regelstrukturen wie die Jobcenter und Arbeitsagenturen sollten bzgl. der Vermittlung in gute, qualifikationsentsprechende und den beruflichen Zielen der Geflüchteten entsprechende Tätigkeiten sensibilisiert werden.

Abbildung 1


Abbildung 2


Abbildung 3


Abbildung 4


Abbildung 5


Abbildung 6


Abbildung 7


Nachweise


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