Gruppenberatung, Übersetzungsprogramme und Orientierungsangebote: So reagiert das IQ Netzwerk Sachsen auf die Fluchtmigration aus der Ukraine

Aufgrund der geografischen Lage und der direkten Bahnverbindung aus Polen kamen besonders viele Geflüchtete aus der Ukraine nach Sachsen. Das dortige IQ Landesnetzwerk unterstützt sie bei ihrem Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt. Wie das in der Praxis konkret aussieht, schildert Kathrin Herbst von der IQ Koordination im Interview.

Wie nehmen Sie aktuell den Beratungsbedarf in Sachsen wahr? Ergaben sich Änderungen seit dem Beginn des Angriffskrieges in der Ukraine?

Kathrin Herbst: Unsere IBASen (Informations- und Beratungsstellen Arbeitsmarkt Sachsen) – wie wir die Beratungsstellen zur beruflichen Anerkennung des IQ Netzwerks Sachsens nennen – stellen in diesem Jahr einen enorm gestiegenen Beratungsbedarf fest. Im Vergleich zu den Vorjahren 2019 bis 2021 haben wir etwa doppelt so viele Anfragen. Vor allem seit Beginn des Kriegs in der Ukraine steigt der Anteil der Ratsuchenden mit ukrainischen Berufsabschlüssen stark an. Allein im August fanden fast 40 Prozent der Beratungen mit Personen statt, die ihren Abschluss in der Ukraine erworben haben.
Die steigenden Zahlen sind allerdings nicht allein durch die Geflüchteten aus der Ukraine begründet. Schon im Januar und Februar trafen vermehrt Anfragen ein – und zwar aus sehr unterschiedlichen Ländern, vor allem außerhalb der EU. Ganz genau erklären können wir uns das nicht. Aber wir vermuten, dass durch die Lockerungen der coronabedingten Einschränkungen nun wieder mehr Menschen mit ausländischen Qualifikationen ihre berufliche Anerkennung in Angriff nehmen wollen.  Für die Beratenden in den IBASen ist dieser gewaltige Anstieg natürlich eine Herausforderung.

Stellen Sie Unterschiede oder Besonderheiten bei der Beratung von Geflüchteten aus der Ukraine fest?

Kathrin Herbst: Zu Beginn kamen viele Geflüchtete mit sehr vielfältigen Fragen in die Beratung – nicht nur in Bezug auf die berufliche Anerkennung, sondern auch zu weiteren Themen wie Aufenthalt, Familiennachzug und Schulbildung. Auf diese Fragen wurde aber schnell durch Infomaterialien von uns und auch von anderen Akteuren wie z.B. den Kommunen reagiert. Deshalb werden die Anliegen schon seit Anfang April nach unserer Wahrnehmung deutlich spezifischer.
Geflüchtete aus der Ukraine – so zeigt es auch unsere Beratungsstatistik – sind mehrheitlich weiblich und gut ausgebildet. Zur IBAS kommen vor allem viele Ärzt*innen, Ingenieur*innen, Lehrer*innen und Wirtschaftswissenschaftler*innen. Etwa 70 Prozent von ihnen sind zwischen 25 und 45 Jahre alt. Die meisten von ihnen sprechen allerdings noch kein oder nur sehr wenig Deutsch.

Wie organisieren Sie sich, um den aktuellen Beratungsbedarf zu bewältigen?

Kathrin Herbst: Zum einen differenzieren wir bei den Anfragen und unseren Angeboten von allgemeinen hin zu immer konkreteren und spezifischeren Informationen. Zum anderen nutzen wir ukrainische und russische Sprachkompetenzen von Kolleg*innen im Netzwerk.
Was die Formate betrifft, könnte man sich das wie einen Trichter vorstellen. Für allgemeine Informationen zur beruflichen Anerkennung, aber auch zu angrenzenden Themen wie Aufenthalt, Spracherwerb und Jobsuche organisieren wir virtuelle Infocafés. Darin geben jeweils eine Beraterin der IBAS sowie ein Kollege des Fachinformationszentrums Zuwanderung (FIZU) einen Mini-Input zu den Themen und stehen für Fragen zur Verfügung. Eine Dolmetscherin übersetzt die Informationen ins Russische. Bisher fanden fünf Infocafés für Geflüchtete aus der Ukraine statt, mit knapp 200 erreichten Personen. Bei den zwei Pendants für Unternehmen und einer Veranstaltung für Multiplikator*innen hatten wir 105 bzw. 35 Teilnehmende.
Mit den Infocafés können wir ein breites Fragenspektrum abfangen und die spezifischeren Beratungsangebote wie IBAS, Faire Integration und FIZU gut vorstellen. Damit nehmen wir den Fachberatungen viel an Orientierungsarbeit ab, die die Geflüchteten zunächst brauchen.
Außerdem haben wir unsere Berufsmerkblätter, die bisher auf Deutsch, Englisch und teilweise Polnisch vorlagen, ins Russische übersetzt. Sie versorgen Ratsuchende mit allgemeinen Informationen zur Anerkennung ihres Berufs. In der Beratung wird darauf aufgebaut und individuell ergänzt.
Die Ratsuchenden kontaktieren die Anerkennungsberatung in der Regel per E-Mail. Sie können ihre Anfragen in ihrer Muttersprache formulieren. Mit Hilfe von Übersetzungsprogrammen verstehen wir sie normalerweise gut. Die Berater*innen antworten dann meist auf Deutsch. Nach unserer Erfahrung kommen ukrainische Geflüchtete damit gut zurecht, weil sie ebenfalls routiniert auf Übersetzungsprogramme zurückgreifen. Komplexere Anfragen werden an eine Kollegin weitergeleitet, die nach Bedarf auch per Telefon, Video oder in Präsenz auf Russisch berät.
Außerdem bieten wir für Berufe, die gehäuft nachgefragt werden, Gruppenberatungen an. Diese finden ebenfalls per Video oder in Präsenz statt. In der Gruppe haben wir bisher Personen mit Abschlüssen in Ingenieurberufen sowie akademischen Heilberufen beraten. Außerdem haben wir vor, dieses Beratungsformat auch für Wirtschaftswissenschaftler*innen anzubieten.

Für Lehrkräfte hat eines Ihrer Qualifizierungsprojekte kurzfristig ein besonderes Angebot entwickelt – eine Art Pre-Qualifizierung. Wie kam es dazu und was genau verbirgt sich dahinter?

Kathrin Herbst: Wir nehmen wahr, dass gerade Personen mit pädagogischem Abschluss eine mehrschrittige Hinführung zur Entwicklung ihrer beruflichen Perspektive in Deutschland benötigen. Das Spektrum an Arbeitsmöglichkeiten ist groß und häufig stellt sich die Frage, ob ein Anerkennungsverfahren für sie möglich, sinnvoll und notwendig ist oder nicht. Vor diesem Hintergrund hat das Zentrum für Forschung, Weiterbildung und Beratung (ZFWB) an der Evangelischen Hochschule Dresden eine Maßnahme zur Orientierung auf dem Arbeitsmarkt speziell für Pädagog*innen entwickelt. Das ist ein modularisiertes Format inklusive muttersprachlicher Begleitung, an dem geflüchtete Pädagog*innen je nach individuellem Bedarf teilnehmen. 
Neben diesem Format gibt es im IQ Netzwerk Sachsen ein weiteres Angebot, das Akademiker*innen jeglicher Fachrichtungen anspricht und sie dabei unterstützt, auf Grundlage ihrer Kompetenzen und Abschlüsse ein berufliches Ziel in Deutschland zu entwickeln.
Diese Angebote finden auf Ukrainisch oder Russisch statt; Letzteres beherrschen aus unserer Erfahrung alle Geflüchteten so gut, dass wir sie damit gut erreichen können. Hierfür greifen die Projekte auf Mitarbeitende mit entsprechenden Sprachkenntnissen zurück, teilweise werden sie auch von Alumni unterstützt, die Russisch oder Ukrainisch sprechen. Die Erfahrungen mit diesem Konzept sind so gut, dass sie auch für andere Zuwanderungsgruppen adaptierbar sind.

Was hat sich insgesamt aus Ihrer Sicht besonders bewährt?

Kathrin Herbst: Die muttersprachlichen Formate für die Zielgruppe. Die neu Zugewanderten verstehen damit schnell, welche Informations- und Beratungsangebote vorhanden sind und welche Optionen sich ihnen bieten. Sie können dadurch besser – und früher! – ihre persönliche Perspektive in Deutschland entwickeln und gehen die dafür notwendigen Schritte dann selbstbestimmter und zielgerichteter. Sie kommen z.B. mit klaren Erwartungen und bestens vorbereitet in die Anerkennungs- und Qualifizierungsberatung, fragen dort gezielt nach und verfolgen ihren eigenen Plan.


Beitrag für den Newsletter 3/2022 der IQ Fachstelle Beratung und Qualifizierung. Das Interview mit Kathrin Herbst von der Koordination des IQ Landesnetzwerks Sachsen bei EXIS Europa e.V. führte Ulrike Benzer.

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