Vorbild Kanada!? IT-Talente finden, binden und erfolgreich begleiten

Interview mit Sandra Saric, Vizepräsidentin des „Information and Communications Technology Council“ Kanada

Der Information and Communications Technology Council (ICTC) ist eine kanadische Non-Profit-Organisation für Arbeitsmarktexpertise in der Digitalwirtschaft. Neben Forschungsprojekten zu den Themen Arbeitsmarkt und berufliche Integration setzt ICTC auch Programme zur Unterstützung bei Einwanderungsprozessen um. Bereits vor der Einreise nach Kanada können ausländische Fachkräfte an Weiterbildungsprogrammen teilnehmen, die die Arbeitsmarktintegration erleichtern und eine Vernetzung mit potentiellen Arbeitgebern ermöglichen. Auch nach der Einwanderung unterstützt ICTC den Integrationsprozess durch verschiedene Angebote.

Auf der Metropolis-Konferenz, die im Juni 2019 mit dem Motto „The Promise of Migration“ in Ottawa stattfand, haben Evelien Willems (Leitung der IQ Fachstelle Beratung und Qualifizierung) und Julia Lubjuhn (stellvertretende Leitung des Portals "Anerkennung in Deutschland") ein Interview mit Sandra Saric, Vizepräsidentin des ICTC, geführt und Einblicke in das Portfolio und die Programme der kanadischen Organisation gewonnen.

Wie sehen die „Pre-Arrival“-Programme von ICTC aus?

Das kanadische Department for Immigration, Refugees and Citizenship (IRCC) verweist alle IT-Fachkräfte, die über das „Express-Entry-Punktesystem“ ihre Bewerbungen einreichen, direkt ans ICTC weiter – genauso machen es auch die IRCC „service points“ in den kanadischen Auslandsvertretungen.

Eines der am längsten bestehenden „Pre-Arrival“-Angebote ist “GO Talent” zur globalen Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland: Zunächst prüfen wir gemeinsam mit den Interessenten ihren Lebenslauf und versuchen, diesen an kanadische Standards in der Technik-Branche anzupassen. Außerdem ordnen wir direkt ein, ob sie schon für den Arbeitsmarkt bereit sind. Wenn das der Fall ist, bringen wir die Interessenten direkt in Kontakt mit kanadischen Arbeitgebern aus unserem Netzwerk. Das alles geschieht noch vor einer Einreise nach Kanada.

Außerdem unterstützen wir die ausländischen Fachkräfte bei Vorstellungsgesprächen. Das ist notwendig, weil in Kanada oft Verhaltensfragen gestellt werden. Bewerber aus dem Ausland verstehen solche Fragen nicht immer, da sie eher fachliche oder technische Fragen erwarten. Um solche interkulturellen Missverständnisse vorzubeugen, sensibilisieren wir neben den Neuankömmlingen auch die kanadischen Unternehmen selbst.

Insgesamt haben wir durch unsere langjährige Erfahrung eine hohe direkte Einstellungsrate: Rund 40 Prozent der Personen, mit denen wir in den „Pre-Arrival“-Programmen arbeiten, erhalten einen Arbeitsplatz in Kanada, noch bevor sie überhaupt einreisen.

Das liegt auch an unserer zielgerichteten Arbeitsweise: Manchmal wird uns von potentiellen Arbeitgebern zurückgemeldet, dass ein Kandidat oder eine Kandidatin noch weiteren Qualifizierungsbedarf hat; teilweise fällt uns das auch direkt bei der Überprüfung des Lebenslaufs auf. In solchen Fällen vermitteln wir an die jeweiligen Stellen und bemühen uns, für jeden die richtigen Maßnahmen zu finden. Damit fördern wir individuell ausgerichtete Lernprozesse.

Welche Möglichkeiten gibt es für Personen, die vor ihrer Einreise nach Kanada noch keine Arbeitsstelle gefunden und kein „Pre-Arrival“-Programm durchlaufen haben?

Auch ohne „Pre-Arrival“-Angebot kann man nach der Einreise nach Kanada Kontakte zu Arbeitgebern knüpfen, zum Beispiel über „Coach Connect“. Wir behandeln „Coach Connect“ fast wie ein Pilotprogramm, weil wir unser Angebot bewusst immer wieder infrage stellen, um selbst noch besser zu werden und das Programm weiterzuentwickeln. So haben wir zum Beispiel früher

allen Neuankömmlingen dieselbe Unterstützungsleistung angeboten. Mit der Zeit haben wir aber festgestellt, dass manche diese Hilfe gar nicht benötigen, weil sie schon ausreichend vorbereitet waren. Das intensive Unterstützungsangebot hat diese Arbeitskräfte zeitlich eher gebunden und an der beruflichen Integration gehindert. Daher bieten wir jetzt drei unterschiedliche Modelle an: ein Vollzeitmodell, ein Teilzeitmodell und ein Selbstlernmodell.

Das Vollzeit- und das Teilzeitmodell sind sich sehr ähnlich. Sie werden als virtuelles Training in Echtzeit durchgeführt. Es gibt einen Trainer, der die Sitzungen leitet und die Teilnehmenden drei Wochen lang begleitet. Stundenweise unterstützt zudem ein Coach, der sich mit dem Arbeitsmarkt und den Möglichkeiten für Neuzugewanderte auskennt. Im Vollzeitmodell begleitet der Coach jeden einzelnen Teilnehmenden individuell, im Teilzeitmodell unterstützt der Coach jeweils eine Gruppe von fünf Teilnehmenden.

Das Selbstlernmodell ist ein Angebot, das wir seit Juli 2019 anbieten und das ausschließlich online stattfindet. Prinzipiell bietet es dieselben Schwerpunkte wie die beiden anderen Modelle, aber die Teilnehmenden erarbeiten sich die Inhalte selbst und wann es für sie zeitlich passt. Dazu hat unser Team Videos erstellt, die die Teilnehmenden bei der Bearbeitung unterstützen. Wir wollten dieses dritte Modell unbedingt, weil wir festgestellt haben, dass einige Neuzugewanderte an den anderen Modellen nicht teilnehmen konnten, aus Gründen wie Schichtarbeit, Kinderaufsicht, Pflegefälle in der Familie. Solche Menschen können nicht drei Wochen in Vollzeit an einem Kurs teilnehmen. Wir wollten also etwas anbieten, das ihnen dieselben Chancen ermöglicht wie den Teilnehmenden der anderen Modelle. Wir freuen uns, dass das von nun an möglich ist. 

Wie haben sich die ICTC-Programme seit 2005 entwickelt und wer war daran beteiligt?

Im Jahr 2005 sind Unternehmen aus der Technikbranche auf uns zugekommen und haben uns um die Entwicklung einer Strategie zur Anwerbung ausländischer Fachkräfte gebeten. Da haben wir festgestellt, dass bereits viele ausländische Fachkräfte aus diesem Bereich in Kanada lebten, allerdings war das den Unternehmen gar nicht bekannt. Wir hatten also einerseits Neuzugewanderte ohne Jobs und andererseits Unternehmen auf der Suche nach Fachkräften. Um das Problem anzugehen, haben wir alle Interessensvertreter an einen Tisch gebracht: die zuständigen Ministerien, die Arbeitgeber, kommunale Organisationen und Bildungsinstitutionen, aber auch die Neuzugewanderten selbst. Alle Meinungen und Stimmen wurden gehört und in die Programmentwicklung integriert. Dabei wurde schnell klar, dass der Unterstützungsprozess bereits im Ausland beginnen muss, noch vor der Einreise, und dann nach der Ankunft in Kanada weitergeführt werden kann. Daher sind wir in Herkunftsländer unserer Neuzugewanderten gereist und haben dort Fokusgruppen abgehalten, um zu verstehen, mit welchen Herausforderungen Einwandernde konfrontiert sind. Auf dieser Basis haben wir unsere Programme entwickelt und auf dieser Basis entwickeln wir sie weiter.

Was sind Ihrer Meinung nach die Schlüsselfaktoren für den Erfolg von ICTC?

Zum einen profitieren wir von unseren eigenen Erfahrungen, die wir in den vergangenen Jahren sammeln konnten. Ich sage manchmal: „Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom.“ So ist das hier auch: Man muss die eigene Arbeit ständig infrage stellen. Wir müssen unsere Arbeit evaluieren und uns den Herausforderungen stellen.

Ein weiterer Erfolgsfaktor ist, dass immer mehrere Parteien an einem Tisch versammelt waren und ICTC nicht im Alleingang ein Programm entwickelt hat. Es wurden immer unterschiedliche Perspektiven einbezogen: die Perspektive der Arbeitgeber, der Bildungseinrichtungen, der Politik, aber eben auch die Perspektive der Einwandernden selbst. Alle Stimmen wurden in gleicher Weise gehört und berücksichtigt. Wir haben miteinander und nicht übereinander gesprochen. Das war enorm wichtig.

Außerdem haben wir Glück, dass in Kanada auch „Pre-Arrival“-Programme umfangreich finanziert werden, und das schon seit 2006. Ich habe noch kein anderes Land mit einem ähnlichen Angebot gesehen. Für mich ist es wichtig, wirklich alles Machbare zu unternehmen, das den Neuzugewanderten bei ihrer Arbeitsmarktintegration hilft.

 

Interview für den Newsletter 2/2019 der IQ Fachstelle Beratung und Qualifizierung

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