Fachstelle fragt ... 

Welche Projekte für Frauen setzen Sie mit Förderprogrammen wie IQ und MY TURN um?

Bereits seit 2013 setzt das Frauennetzwerk zur Arbeitssituation e. V. die IQ Anerkennungsberatung in Schleswig-Holstein um. Neu in der Förderphase 2023–2025 ist, dass sich eine Qualifizierungsberatung anschließt. Das MY TURN-Projekt "FRESH – Frauen Empowerment Schleswig-Holstein" begleitet die Teilnehmenden und bietet Beratung zum Thema Arbeitsmarktintegration an.

Frau Nissen, warum haben Sie sich (als Träger) für die Zielgruppe Frauen entschieden? Welche besonderen Potentiale und Herausforderungen gibt es? 

Im Erwerbsleben sind Frauen nach wie vor von struktureller Benachteiligung betroffen. Noch deutlicher zeigen sich mehrfache (oder intersektionale) Diskriminierungen bei Migrantinnen mit und ohne Fluchterfahrungen – als Frau, als Migrantin, häufig auch als Mutter und Muslimin. Gleichzeitig ist der Unterstützungsbedarf hoch, denn Migrantinnen und insbesondere geflüchtete Frauen verfügen über weniger gute Sprachkenntnisse und Systemkenntnis als Männer. Sie sind zudem von gesundheitlichen Problemen häufiger betroffen und übernehmen den Großteil der Carearbeit.1 Um diesen Ungleichheiten zu begegnen, richten wir uns mit unseren Projekten größtenteils an Frauen (insbesondere mit eigener Migrationserfahrung).

In ländlichen Gegenden Schleswig-Holsteins betrifft die fehlende Mobilität Migrantinnen ungemein mehr als andere. Trotz guten Unterstützungsangeboten und Integrationserfolgen steckt die Offenheit der Aufnahmegesellschaft, insbesondere gegenüber Migrantinnen als Arbeitnehmerin, noch in den Kinderschuhen. Dem gegenüber stehen enorme Fachkräftebedarfe in Stadt und Land Schleswig-Holstein. Unsere Erfahrung zeigt, dass Migrantinnen bei bedarfsgerechten und an ihrer Lebenswelt orientierten Unterstützungsangeboten ihre Potentiale entfalten können und in Ausbildung, Erwerbstätigkeit und/oder Selbstständigkeit einmünden, denn ihre Motivation und ihre vielfältigen Kompetenzen sind sehr hoch und auch ihre zum Teil mitgebrachten formalen Abschlüsse sprechen für sie.

Was umfasst Ihre »IQ Anerkennungs- und Qualifizierungsberatung« und inwiefern geht sie auf besondere Bedürfnisse von Frauen ein?

Das Angebot umfasst die Beratung zur Anerkennung von beruflichen Abschlüssen sowie zur Qualifizierung im Rahmen des Anerkennungsgesetzes und richtet sind an erwachsene Zugewanderte aller Geschlechter. Zu unseren Beratungsinhalten gehören die Vorbereitung und Durchführung des Anerkennungsverfahrens, die Festlegung des Referenzberufs sowie die Verwertbarkeit der Qualifikation auf dem regionalen Arbeitsmarkt. Wir informieren über die erforderlichen Unterlagen zur Anerkennung, verfolgen die Antragstellung und unterstützen bei Problemen/Hindernissen. Die Qualifizierungsberatung schließt an die Anerkennungsberatung an und berät die Ratsuchenden bei teilweiser Gleichwertigkeit bezüglich der Nachqualifizierungsbedarfe mit dem Ziel, durch das Absolvieren geeigneter theoretischer und/oder betrieblicher Qualifizierungsmaßnahmen die volle Anerkennung zu erlangen bzw. das Fachwissen an aktuelle Anforderungen anzupassen.

Frauen bringen aus ihren Herkunftsländern genauso berufliche Abschlüsse mit wie Männer, vor allem aus Ländern wie Ukraine, Syrien oder Iran, die über ein stabiles Bildungssystem verfügten/verfügen. Gleiches gilt für Migrantinnen ohne Fluchtgeschichte. Sie haben nicht selten viele Jahre in ihren Berufen gearbeitet und versuchen, in Deutschland Anschluss an ihre Qualifizierung zu finden. Leider haben viele Migrantinnen bedingt durch Migration oder Flucht, Carearbeit und den Integrationsprozess in Deutschland lange Erwerbsunterbrechungen. Wir beobachten, dass Migrantinnen trotz ihrer Qualifikation auch in ihrer Heimat häufiger als Männer fachfremd beschäftigt waren. Deswegen und aufgrund der langen Erwerbspausen generell gelten sie öfter als Männer als formal (wieder) ungelernt.  Migrantinnen, die im Familienverbund nach Deutschland kommen, lassen oft ihren Männern den Vortritt bei der beruflichen Integration und beantragen ihre Anerkennung später.

In der Aufnahmegesellschaft werden sie oftmals in der Carearbeit oder in Hilfstätigkeiten gesehen, obwohl sie in ihrem Herkunftsland keine Berührungspunkte mit solchen Tätigkeiten hatten. Die Systemunkenntnis verleitet außerdem zum Rückzug. Wir versuchen in den Beratungen, Frauen Mut zuzusprechen und sie ggf. innerhalb unserer Netzwerkarbeit auch zu unterstützen. 

Wir begegnen den Bedarfen von Frauen, indem wir neben der Präsenzberatung in Flensburg regelmäßig mobile Beratungen im ländlichen Raum anbieten und darüber hinaus telefonische und digitale Beratung. Das Angebot wird gut angenommen. Die Erreichbarkeit der Beratung wird so auch insbesondere Frauen besser zugänglich gemacht. Zudem ist unser Beratungsansatz stets niedrigschwellig und lebensweltorientiert, sodass wir familiäre Pflichten im Beratungsprozess und insbesondere bei Einmündung in eine Qualifizierung berücksichtigen. Als frauenpolitischer Träger haben wir eine hohe Kompetenz bezüglich Wiedereinstieg nach der Familienzeit.

Welche Erfahrungen konnten Sie bisher machen: Was läuft gut? Worin bestehen in der Praxis Herausforderungen?

Als frauenspezifischer Träger liegen uns die Bedarfe und die Förderung der Frauen besonders am Herzen. Unser Beratungsansatz ist lebensweltorientiert, ganzheitlich und parteilich. In den Anfangszeiten der Anerkennungsberatung ist die Kostenübernahme durch die Arbeitsverwaltungen bisweilen nicht reibungslos von Statten gegangen. Die Notwendigkeit der Anerkennung und Qualifizierung wurde teilweise von Fallmanager*innen in Frage gestellt, da die kurzfristige Vermittlung in eine Hilfstätigkeit einer nachhaltigen, qualifikationsadäquaten Beschäftigung vorgezogen wurde und familiäre Verpflichtungen sowie Sprach- und Systemunkenntnis als schwer veränderliche Hindernisse der Arbeitsmarktintegration gesehen wurden. Davon waren weitaus mehr Frauen betroffen als unsere männlichen Ratsuchenden.

Bei der Vermittlung in Qualifizierungsangebote stellt geforderte Mobilität anerkennungssuchende Frauen vor Schwierigkeiten, denn in Schleswig-Holstein haben wir die Herausforderung, dass viele Qualifizierungen nur an bestimmten Orten angeboten werden, oft in anderen Bundesländern. Die Erreichbarkeit und Vereinbarkeit mit den Familienaufgaben ist dann leider nicht gegeben. Der Anteil von Qualifizierungen, die virtuelle Anteile haben, hat zwar zugenommen, jedoch ist in der Regel auch Präsenzunterricht vorgesehen. Auch sind Qualifizierungen, die ausschließlich digital oder in Präsenz vor Ort berufsbegleitend am Wochenende oder in den Abendstunden angeboten werden, für Frauen aufgrund familiärer Pflichten oft nicht realisierbar. Zwangsläufig entscheiden sich so qualifizierte Frauen für Tätigkeiten im Helferinnenniveau – insbesondere in Berufen im Sozial- und Gesundheitswesen, in denen der Fachkräftebedarf riesig ist. Die spätere Aufnahme einer Qualifizierung ist dann ebenso mit Schwierigkeiten verbunden, weil sie den Wegfall des Einkommens bedeuten würde.

Nun zu MY TURN: Welche Möglichkeiten bietet das Programm – für Frauen, aber auch für Sie als Träger?

Das Förderprogramm MY TURN und die erhaltene Förderzusage für FRESH hat uns als Träger die Möglichkeit eröffnet, unsere Arbeit mit Migrantinnen fortzusetzen und an aktuelle Bedarfe anzupassen. Positiv hervorzuheben am Programm MY TURN ist aus unserer Sicht, dass Beratungs- und Gruppenangebote kombiniert werden und dass insbesondere die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den Fokus genommen und gefördert werden soll. Denn unsere langjährige Erfahrung in der Arbeit mit Frauen mit und ohne Migrationsgeschichte zeigt, dass mangelnde Vereinbarkeitsmöglichkeiten häufig der Grund sind, warum Frauen weniger als Männer im Arbeitsmarkt, Bildung und Qualifizierung vertreten sind – und nicht etwa Motivationsdefizite oder Integrationsunwille. Wir können mit FRESH Frauen erreichen, die bisher noch in vielen Projekten, Maßnahmen und Sprachförderangeboten unterrepräsentiert sind, da sie hohen Förderbedarf haben, aber in der Regel noch nicht arbeitsmarktnah sind und geringe Sprachkenntnisse besitzen.

Das vielfältige Workshop-Angebot unterstützt Frauen bei der Weiterentwicklung ihrer Fähigkeiten in unterschiedlichen berufsrelevanten Themenfeldern und zielt so auf die qualitative und quantitative Verbesserung der Berufsaussichten ab. Als Träger sind wir durch intensive und kontinuierliche Beratungsprozesse in der Lage, bedarfsgerechte und individuelle Unterstützung zu leisten und auch langfristig relevante Angebote zu schaffen.

Welche Schwerpunkte hat das Projekt FRESH und welche Frauen erreichen Sie damit?

FRESH richtet sich an Frauen mit eigener Migrationsgeschichte in Flensburg, Kiel, Lübeck sowie in den Kreisen Schleswig-Flensburg, Nordfriesland, Segeberg, Stormarn und Rensburg-Eckernförde, die über einen Aufenthaltstitel verfügen. Das Projekt spricht Frauen an, die formal geringqualifiziert sind und Förderbedarf in den Bereichen Sprache, Vereinbarkeit und/oder digitale Kompetenzen haben. Im Fokus steht die Verbesserung der Chancen auf dem Arbeitsmarkt, das Empowerment der Teilnehmerinnen sowie die Entwicklung realistischer beruflicher Ziele jeder Frau.

Unser Angebot ist niedrigschwellig gestaltet und kombiniert Einzelberatungen und Workshops, welche sich gegenseitig ergänzen. Jede Teilnehmerin nimmt regelmäßig Beratung bei ihrer Beraterin wahr und besucht darüber hinaus die Workshops, die ihrem festgestellten Förderbedarf entsprechen. Das Workshopangebot beinhaltet die Themengebiete „Arbeiten und Leben in Deutschland“, der Berufsorientierung, Bewerbung und Jobsuche, Kompetenzerfassung, Vereinbarkeit und rechtliches Know-How auf dem Arbeitsmarkt. Es umfasst praktische Sprachförderung in Form eines Sprachcafés für alle Sprachniveaus sowie Digital- und Medienkompetenz zum Erlernen der Basic-Skills im sicheren Umgang mit Computer und Internet sowie arbeitsmarktorientierte Grundbildung in den Bereichen Schreiben, Mathematik und Englisch. Die Beratung orientiert sich an aktuellen Bedarfen der Frau in Verbindung mit den Themen passgenaue Berufswahl, (Sprach)Förderbedarfe, Vereinbarkeit, Bewerbung, Kompetenzerfassung sowie Jobsuche. Dabei trägt die parallele Förderung der genannten Bereiche zur Entwicklung und schrittweisen Realisierung individueller beruflicher Ziele bei.

Haben Sie in Ihrem Projektalltag die Möglichkeit, sich über die verschiedenen „Frauenprojekte“ auszutauschen? Welche Vorteile und Synergieeffekte können Sie daraus für die Umsetzung in den beiden Projekten ziehen?

Im Frauennetzwerk zur Arbeitssituation e. V. verfügen wir über langjährige Erfahrung in der Arbeit mit Migrantinnen. Die Erfahrungen fließen ebenso wie aktuelle Bedarfe in die Gestaltung von Projekten mit ein. Wir pflegen sowohl regelmäßigen projektinternen als auch projektübergreifenden Austausch in Form von Projektteams, Standortteams und kollegialer Beratung. Der Mehrwert besteht für uns zum einen darin, Kernthemen des frauenpolitischen Engagements – wie Gendergerechtigkeit, Empowerment und Familienfreundlichkeit – in alle Angebote einfließen zu lassen, uns stetig dafür einzusetzen und zum anderen Wissen zu teilen und auf Expertinnenwissen sowie Kultur- und Sprachkenntnisse zurückgreifen zu können.

Unsere aktuellen Projekte für Migrantinnen fügen sich teils gut aneinander. Durch den regen Austausch, auch projektübergreifend, haben beispielsweise alle Kolleginnen das Thema Anerkennung im Blick, was für die Teilnehmerinnen aller Projekte den Vorteil hat, dass sie ohne großen Zeitverzug Unterstützung im Anerkennungsverfahren erhalten. Viele Migrantinnen, die die IQ Anerkennungs- und Qualifizierungsberatung in Anspruch nehmen, haben darüber hinausgehenden Beratungs- und Unterstützungsbedarf, dem wir infolge des projektübergreifenden Austauschs durch Verweise in ein entsprechendes Unterstützungsangebot begegnen können – sowohl im Frauennetzwerk als auch im Netzwerk. Menschen ohne Abschlüsse oder mit Negativprognose beraten wir in unserem Projekt »My Potentials – KomBi-Laufbahnberatung« in der wir Potentialanalyse, Kompetenzfeststellung und Biographiearbeit anbieten.

Wo sehen Sie weiteren Bedarf, um die Zielgruppe der Frauen für den Arbeitsmarkt zu gewinnen bzw. „fit zu machen“?

Um den strukturellen Benachteiligungen von Migrantinnen und geflüchteten Frauen bei der Arbeitsmarktintegration zu begegnen, braucht es neben politischen und gesellschaftlichen Maßnahmen vor allem kontinuierliche Unterstützungsangebote, die an den Bedarfen der Frauen ansetzen. Für Migrantinnen ist nach unserer langjährigen Erfahrung insbesondere die langfristige und ganzheitliche Begleitung aus einer Hand erfolgversprechend. Es braucht also langfristig angelegte Unterstützungsangebote, d. h. lange Laufzeiten von Projekten und Maßnahmen, denn Migrantinnen haben oft lange Wege in den Arbeitsmarkt und jeder Übergang, jeder Trägerwechsel, birgt das Risiko des Abbruchs der Förderkette.

Von Nöten sind mehr Angebote der Sprachförderung, auch im ländlichen Raum und auch für Frauen, die keinen regulären Zugang zu Integrationskursen haben. Gerade im ländlichen Raum ist wichtig anzumerken, dass Kurszeiten an ÖPNV- und Kinderbetreuungszeiten angepasst sein müssen, damit Frauen diese wahrnehmen können. Bei Qualifizierungsangeboten, sowohl im Kontext von beruflicher Anerkennung als auch unabhängig davon, sind ebenfalls mehr Teilzeitangebote, digitale und flächendeckendere Angebote notwendig, damit Migrantinnen qualifiziert in den Arbeitsmarkt einmünden können.

Um Frauen ohne formalen Abschluss für den Arbeitsmarkt gewinnen zu können und vor allem ihre Kompetenz sichtbar zu machen, sind überall Verfahren erforderlich, die den Frauen als auch den Arbeitgebenden diese informellen Kompetenzen aufzeigen. Unser IQ-Projekt »My Potentials – KomBI-Laufbahnberatung«​​​​​​​ leistet einen ersten Beitrag dazu.

Um den Vorurteilen gegenüber Migrantinnen als Arbeitnehmerin zu begegnen, ist vor allem Austausch notwendig – Vereinbarkeitslösungen müssen offen diskutiert und thematisiert werden, in Frauenprojekten ebenso wie von Arbeitgeber*innen. Kinderbetreuung ist oft der Dreh- und Angelpunkt der Arbeitsmarktintegration, denn an Motivation und Kompetenz mangelt es Migrantinnen nicht. Deswegen kann nur immer wieder betont werden, was für einen hohen Stellenwert der Ausbau der Kinderbetreuung hat, damit Mütter einer Erwerbsarbeit nachgehen können – wenn gewünscht auch vor Ende der Elternzeit.

1 vgl. BAMF (2021): Geflüchtete Frauen und Männer unterscheiden sich in ihren Lebensentwürfen" und BMFSFJ (2013): Mütter mit Migrationshintergrund - Familienleben und Erwerbstätigkeit

 

© Fotos Majra Nissen & Team FRESH: Frauennetzwerk zur Arbeitssituation e. V.
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Majra Nissen
ist Pädagogin M.A., Mediatorin und Konfliktcoach.
Sie arbeitet als Regionalleiterin Flensburg in der »IQ Anerkennungs- und Qualifizierungsberatung« des Frauennetzwerks zur Arbeitssituation e. V.


Das Interview führte Tatjana Erfurt für den Newsletter 2/2023 der IQ Fachstelle Anerkennung und Qualifizierung.

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