Eine Möglichkeit, die Welt weiterzudenken

Rezension: Der Sammelband „Postmigrantische Perspektiven“, der von namhaften Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Rats für Migration erstellt wurde, wirft einen neuen Blick auf das Thema Migration.

Um sich dem Inhalt widmen zu können, muss eine Beschäftigung mit dem Titel vorangestellt werden. Was bitteschön meint postmigrantisch? Im Kern geht es darum, den bislang im öffentlichen Diskurs eher als defizitär wahrgenommen Begriff „Migration“ neu zu beleben. Dahinter steht der Wunsch nach einem Perspektivwechsel, wobei das „post“ keine Distanzierung von der Migration bedeutet, sondern von ihrer Analyse als Bedrohung, Verfremdung und Ausnahmezustand, erklärt Herausgeberin Naika Foroutan, Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen, in der sich viele Menschen für Vielfalt stark machen, aber auch immer mehr eine drastische Ablehnung von Pluralität äußern, möchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Polarisierung eine postmigrantische Perspektive entgegensetzen. Dabei geht es ganz bewusst darum, die Migration dem Fokus der Debatten zu entziehen, die alle gesellschaftlichen Probleme und Herausforderungen auf sie reduzieren und stattdessen den analytischen Blick wieder stärker auf Klassen-, Rassismus- und Geschlechterfragen zu lenken. Ziel des Bandes ist es, anhand interdisziplinärer Ansätze der Frage nachzugehen, welche neuen Einsichten sich mit einer postmigrantischen Perspektive gewinnen lassen. 

Diversität abbilden

Der erste Teil widmet sich den Möglichkeiten der Überschreitung binärer Zuschreibungen. Wie Migrantinnen und Migranten der zweiten oder dritten Generation ihre eigenen Räume schaffen, die beschränkten Vorstellungen von „Migration“ und „Integration“ entgegenstehen, wird unter anderem an dem Filmemacher Fatih Akin deutlich, der in seinen Filmen immer wieder Alternativen anbietet, auf andere Weise über Migration nachzudenken. Im zweiten Teil beschäftigten sich die Autorinnen und Autoren damit, wie sich die postmigrantische Gesellschaft in ihrer Diversität abbilden lässt. Dabei wird auch die Verwendbarkeit der Kategorie „mit Migrationshintergrund“ diskutiert. Einerseits ließen sich damit familiäre Einwanderungserfahrungen auch über die erste Generation hinaus statistisch abbilden und damit auch strukturelle Ungleichverhältnisse erfassen und kritisieren, andererseits schrieben sie die Nichtzugehörigkeit von Kindern und Enkeln der Migrantinnen und Migranten fest, heißt es in der Einleitung.

Keine einfachen Lösungen 

Zahlreiche weitere Beiträge, thematisieren, wie sich die Gesellschaft verändern muss, um ihrer steigenden Pluralität gerecht zu werden, betonen aber auch, dass Rassismus mit der zunehmenden gesellschaftlichen Partizipation von Minoritäten nicht überwunden ist, sondern Abwehrreaktionen hervorruft. Die im Band zu Wort kommenden Stimmen tragen viele innovative Ideen zur zeitdiagnostischen Beschreibung der Gesellschaft als „postmigrantisch“ und zu den damit zusammenhängenden Transformationen zusammen, bieten aber keine einfachen Lösungen. Deutlich wird Shermin Langhoff, Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters, am Ende des von ihr stark biografisch verfassten Nachwortes, in der Erklärung, warum ihr das Wort „postmigrantisch“ so kostbar ist. „Es erzählt mir von der Möglichkeit, die Welt weiterzudenken und zu entwerfen.“

Postmigrantische Perspektiven

Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik

Naika Foroutan, Juliane Karakayali, Riem Spielhaus (Hrsg.), Campus Verlag, 2018

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