Zutrauen statt Misstrauen

Der Politologe Karl-Heinz P. Kohn bringt die Herausforderungen an eine wirksame Weiterbildungsberatung für Menschen mit Migrationsgeschichte auf den Punkt.

Professionelle Beraterinnen und Berater wissen: Empathie für die Situation der Ratsuchenden und insbesondere auch für die emotionale Verfassung, die sich aus ihr ergibt, das ist eine Grundvoraussetzung für eine gelingende Beratung – auch und gerade in Sachen Bildung, Beruf und Beschäftigung. Um zu verstehen, welche Aufgaben auf Beraterinnen und Berater im Kontext der Weiterbildung warten, sollen zunächst zwei typische Situationen zeigen, welche Fragen sich Ratsuchende mit Migrationsgeschichte stellen könnten.

„OHNE ABSCHLUSS WIRST DU KEINE ZUKUNFT HABEN!“

Es könnte sich beispielsweise um eine Person handeln, die nicht selbst nach Deutschland migriert ist, deren Eltern oder Großeltern aber diesen Schritt gewagt haben. Sie kamen beispielsweise aus Anatolien und waren zunächst als angelernte Kräfte in der aufstrebenden Industrie des „Wirtschaftswunderlandes“ hoch willkommen – als „Gäste“. Folgende Selbstwahrnehmung des Ratsuchenden könnte dann eine Rolle in der Beratung spielen: Ich gehöre zu den Kindern aus sogenannten „bildungsfernen Familien“. Ich teile mit allen Deutschstämmigen derselben sozialen Schicht die Erfahrung, dass das selektive Schulsystem mir einen klaren Platz ganz unten zuweist und die soziale Mobilität durch Bildung zwar ein allgegenwärtiges Versprechen ist – in der Realität aber etwas sehr Seltenes. Hinzu kommt, dass meine Muttersprache nicht die Unterrichtssprache ist und dass meine ethnische Herkunft vielleicht durch meine Erscheinung, spätestens aber durch meinen Namen, offen zu Tage tritt. Ich habe also zusätzlich die Erfahrung gemacht, dass meine Leistung geringer bewertet wird, dass ich seltener eine weiterführende Schulempfehlung erhalte und dass ich bei Bewerbungen seltener eingeladen werde als andere – das alles bei vergleichbarer Leistung. Das schulische Lernen in meiner Zweitsprache hat mir also nicht sonderlich viel gebracht. Im Ergebnis habe ich ohne fachlichen Berufsabschluss gearbeitet und bin klargekommen damit. Nun sagt alle Welt: „Ohne Abschluss wirst Du keine Zukunft haben. Der einzige Weg ist Weiterbildung.“ Ich soll also wieder in die ungeliebte Lernmühle. Traue ich mir das zu? Und wenn ich dort Leistung erbringe, werden es die anderen (an)erkennen? Und wenn ich es nach Investition von Zeit und Einkommensverlusten am Ende wirklich geschafft haben sollte: Wird mich jemand mit meinem Abschluss dann wirklich einstellen, weil er nicht nur mein Zeugnis sieht, sondern mir die entsprechende Leistung tatsächlich auch zutraut?

„LOHNT SICH DAS ALLES?“

Bei einem zweiten Beispiel könnte es sich um eine Person handeln, die im Zuge der Zuwanderung 2015 nach Deutschland gekommen ist und folgende Überlegungen anstellt: Karl-Heinz P. Kohn, Dozent an der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit mit Schwerpunkt Arbeitsmarktmanagement und Berufliche Beratung. 2011 legte er eine Delphi-Studie vor zu den spezifischen Beratungs- Themen und -Bedarfen in der Beratung von Ratsuchenden mit Migrationshintergrund. Nach der Fluchtmigration 2015 entwickelte er entsprechende Lehrinhalte für die Beraterausbildung und leitet seit 2016 ein europäisches Forschungsprojekt zur beruflichen Beratung Geflüchteter. Ich habe mich nach traumatisierenden Erlebnissen in meiner Heimat auf den Fluchtweg nach Deutschland gemacht. Dort bin ich ganz gut aufgenommen worden. Aber ich spreche natürlich erst einmal wenig Deutsch. Und die beruflichen Wege sind sehr zahlreich und komplex. Und noch vielfältiger als die Ausbildungsberufe sind all die Spezialisierungen, die mir meine Beraterin zu erläutern versucht. Aber wie weiß ich wirklich, was mir liegt? Werde ich dem Unterricht in Deutsch so gut folgen können, dass ich die hohen Anforderungen schaffe? Wie soll ich in der Zeit der Weiterbildung das Geld verdienen, das ich meiner Familie in der Heimat schuldig bin? Und lohnt sich die Investition, wenn Bekannte von mir sogar mitten aus der Ausbildung abgeschoben werden und die Stimmung gegen uns Flüchtlinge immer stärker wird?

EMPOWERMENT ALS ANTWORT

Zwei lange Absätze in einem kurzen Beitrag, in der Hoffnung, dass die fachlichen Ableitungen nun schnell erklärt sind: Eine funktionierende Weiterbildungsberatung für Ratsuchende mit Migrationsgeschichte braucht einen wirklich effektiven Ansatz des Empowerment. Es gilt vor allem, die systematisch geschwächte Selbstwirksamkeitserwartung der Ratsuchenden zu kennen, zu wissen, woher sie kommt und daraus die beratungsprofessionellen methodischen Schlüsse zu ziehen. Migrationsspezifische Studiengänge und Trainings für Beraterinnen und Berater müssen diesen Prozess unterstützen (siehe Kasten). Ein niedrigschwelliger Zugang ist von hoher Bedeutung, denn die beschriebenen Fragen und Hemmungen werden viele erst gar nicht den Schritt zur Beratung machen lassen. In der Beratung dann gilt es, den Wirkkreislauf spezifischer Herausforderungen zu durchbrechen (siehe Grafik).

ANWALTLICHE BERATUNGSHALTUNG

Das geht nur mit deutlich zugewandter und für den Ratsuchenden anwaltschaftlicher Beratungshaltung. Für die Beratung in der öffentlichen Arbeitsverwaltung bedeutet das: Übertragung der Kompetenzen und der Haltung aus der Beratung von Jugendlichen mit besonderem Förderungsbedarf an der „Ersten Schwelle“ auf die Beratungsaufgabe zur Weiterbildung Erwachsener (siehe Kasten). Das bedeutet auch Abschied vom Paradigma des „Förderns und Forderns“, das heute (noch) in der Beratung arbeitsloser Ratsuchender vorherrscht. Es geht um Zutrauen statt Misstrauen, um echte Anwaltschaft und um wirkungsvolle Bestärkung. Erst danach geht es in die mühevolle Ebene all der relevanten komplexen Wissensbestände, die bei der Wahl der geeigneten Weiterbildung zu bewältigen sind – und die bei Ratsuchenden ohne oder mit geschwächter Geschichte im deutschen Bildungssystem besonderer Kommunikationskünste bedürfen. Erst wenn all dies gelingt, können wir die zahlreichen Potenziale aus der Migration nach Deutschland heben – für das soziale Miteinander und für die Wertschöpfung am deutschen Arbeitsmarkt.

Weiterführende Fachliteratur von Karl-Heinz P. Kohn

„Spezifische Berufsberatung für geflüchtete Menschen – Schlüssel zur Nutzung eines bedeutenden Fachkräftepotenzials“, www.Kohnpage.de/Text2017a.pdf

„Berufsberatung für Erwachsene. Themen und Bedarfe – Rechtsanspruch und ökonomische Bedeutung“, www.Kohnpage.de/Text2017d.pdf

Über den Autor

Karl-Heinz P. Kohn ist Dozent an der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit mit Schwerpunkt Arbeitsmarktmanagement und Berufliche Beratung. 2011 legte er eine Delphi-Studie vor zu den spezifischen Beratungs-Themen und -Bedarfen in der Beratung von Ratsuchenden mit Migrationshintergrund. Nach der Fluchtmigration 2015 entwickelte er entsprechende Lehrinhalte für die Beraterausbildung und leitet seit 2016 ein europäisches Forschungsprojekt zur beruflichen Beratung Geflüchteter.

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