Wieviel Sprache braucht Integration?

Eine Frage, die polarisiert. Was für den einen eine Voraussetzung ist, ist für den anderen nicht unbedingt zwingend. Verschiedene Meinungen zu einem Thema.

Während mancherorts über das geeignete Sprachniveau diskutiert wird, das als Mindestanforderung an Zuwandernde zu stellen ist, um ihnen gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt einzuräumen, wird anderswo die Rekrutierung von ausschließlich englischsprachigem Personal praktiziert. Die einen mahnen, dass man aus den Fehlern der Vergangenheit lernen muss, und Menschen, die hier leben und arbeiten wollen, von Anfang an deutschsprachlich schulen sollte, damit sie in Job und Alltag zurechtkommen. Die anderen weisen auf das Potenzial hin, das Mehrsprachigkeit insbesondere im Arbeitskontext mit sich bringt und auf die Gefahr, den Trend nach internationaler Ausrichtung zu verpassen und die Rekrutierung fremdsprachiger Fachkräfte zu gefährden. Ist die deutsche Sprache also eine Brücke auf dem Weg in unsere Gesellschaft oder eine Barriere? Und schließen sich die beiden Blickwinkel gegenseitig aus oder sind sie vereinbar? Es kommt sicherlich auf jeden einzelnen Zuwandernden an, die individuelle Biografie, den Bildungshintergrund und die Migrationsmotivation sowie das Arbeits- und Alltagsumfeld hierzulande. Das alles sind Faktoren, die in ihrer Gesamtheit die sprachlichen Anforderungen definieren und maßgeblich dafür sind, in welcher Sprache kommuniziert werden kann. Gewiss gibt es in einigen Großstädten ganze Unternehmen, deren Kommunikation auf Englisch abläuft, sei es die Welt der Banken, der Energie, der Games oder IT, der Schifffahrt oder Online-Händler. Dort weht längst ein internationaler Wind, der selbst in deutschen Niederlassungen die Teams englisch sprechen lässt. Das Ziel dabei ist einerseits, das globale Geschäft bedienen zu können, und andererseits der Multinationalität der Belegschaft am deutschen Standort gerecht zu werden. Englisch als lingua franca in Deutschland? Das klingt nach mehr Mut zu Mehrsprachigkeit, verlangt aber von Teilen der Gesellschaft wie Institutionen, Ämtern und Behörden die Bereitschaft, sich sprachlich zu öffnen.

Positionen

Expertinnen und Experten antworten auf die Eingangsfrage und offenbaren Überlegungen, die die deutsche Sprachfähigkeit für die Integration sowohl betonen als auch relativieren.

„Sprache ist wichtig, aber nicht der einzige Schlüssel.“

„Der Zugang zum Arbeitsmarkt und die Teilhabe von Migrantinnen und Migranten am gesellschaftlichen und beruflichen Leben werden in Deutschland in starkem Zusammenhang mit der Beherrschung der deutschen Sprache diskutiert. Auch wenn die Bedeutsamkeit von Deutschkenntnissen für die Integration von Zuwandernden nicht bestritten werden kann, muss doch gleichzeitig darauf aufmerksam gemacht werden, dass Sprache nicht der einzige Schlüssel für den Zugang zum Arbeitsmarkt und zum gesellschaftlichen Leben ist – diese Annahme wäre eine gefährliche Verkürzung der Diskussion über gesellschaftliche Integration. Gesamtgesellschaftliche Integration bedeutet nicht zuletzt, dass auch die aufnehmende Gesellschaft Selbstverantwortung übernimmt und in diesem Sinne zugewanderten Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe am sozialen, (bildungs-)politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben unter Anerkennung ihrer Potenziale und Kompetenzen ermöglicht, ohne von ihnen eine einseitige Anpassung zu erwarten.“
Iris Beckmann-Schulz, Sprachwissenschaftlerin M.A.

 

„Wertschätzungspotenzial für Zweitsprachlerinnen und -sprachler.“

„Es ist unbestritten, dass heutzutage in vielen Berufen und vor allem mit steigender Position auf der Karriereleiter die Sprachkompetenz in der englischen Sprache für die Integration in den Beruf und das konkrete Unternehmen mindestens ebenso relevant ist wie die Deutschkenntnisse. Und auch können die Herkunftssprachen von Zweit- und Fremdsprachlerinnen und -sprachlern von großer Relevanz für die Betriebe und den Kundenkontakt sein und damit Wertschätzungs- und Integrationspotenzial bieten.“
Prof. Dr. Christian Efing, Professor für Sprachdidaktik

 

„Hervorragende Deutschkenntnisse haben noch niemanden vor Arbeitslosigkeit bewahrt.“

„Es gibt keinen wissenschaftlich belegten Zusammenhang zwischen Deutschkenntnissen und Integration. Die Behauptung, nur mit Deutschkenntnissen auf dem Referenzrahmen-Niveau A2 oder B1 könnten Erwachsene integriert sein, entbehrt jeder Grundlage und ist durch die erfolgreiche Integration von Zuwandernden über viele Jahrzehnte widerlegt. Hervorragende Deutschkenntnisse haben noch niemanden vor Abschiebungen oder Arbeitslosigkeit bewahrt. Zu unseren demokratischen und menschenrechtlichen Grundlagen gehört, dass auch Menschen ohne ausreichende Sprachkenntnisse z.B. Analphabeten, Menschen ohne Schulabschluss u.a. dazugehören; manche von ihnen werden übrigens höchst erfolgreiche Steuerzahler. Bürger aus anderen EU-Ländern dürfen ohne Deutschkenntnisse einreisen und bei uns leben. Die europäischen Länder geben daher unterschiedliche Antworten auf die Frage, ob, wann und auf welchem Niveau man Sprachkenntnisse in der Landessprache braucht, d.h. Sprachanforderungen an Migrantinnen und Migranten sind willkürliche Festlegungen. Natürlich helfen Deutschkenntnisse bei der Teilhabe an unserer Gesellschaft, aber in manchen Kontexten sind auch andere Sprachen gute Hilfen.“
Prof. Dr. Jürgen Krumm, deutsch-österreichischer Germanist und Sprachlehr- und Sprachlernforscher

 

„Sprache hat eine zwiespältige Rolle inne, die zwischen Förderung und Sanktion oszilliert.“

„Der in der verkürzten Formel ‚Integration durch Sprache‘ erkennbare Diskurs hinterlässt in Politik und Gesellschaft tiefe Spuren. Migrations- und Integrationsgesetze werden sukzessive verschärft, wobei die Sprache eine zwiespältige Rolle innehat, die zwischen Förderung und Sanktion oszilliert. Während das Angebot an (bezahlbaren/kostenlosen) Deutschkursen mangelhaft bleibt, werden Sprachanforderungen gesetzlich festgelegt, was wiederum den Willen von Neuzugezogenen zum Spracherwerb in Frage stellt. Wie das österreichische Netzwerk SprachenRechte (sprachenrechte.at) moniert, geht es bei sogenannten integrationsfördernden sprachlichen Maßnahmen oft nur vordergründig um ‚Integration‘ oder ‚Sprache‘ . Gerade bei erhöhten, neu eingeführten sprachlichen Anforderungen für Aufenthalt, Arbeit und Wohnen ist Vorsicht geboten: Wer wird dadurch von bestimmten Angeboten ausgeschlossen? Inwiefern bedarf es der verlangten Sprachkompetenzen oder werden solche als angeblich neutrales Kriterium herangezogen? Sprachkompetenzen sollen nicht als Allheilmittel betrachtet werden – eine derartige politische Verengung fördert vielmehr eine defizitorientierte Perspektive und ignoriert soziale Prozesse der Diskriminierung, was einer gesamtgesellschaftlichen Integration gegenläufig ist.“
Dr. Mi-Cha Flubacher, Institut für Sprachwissenschaft, Universität Wien

 

„Aber Kommunikation ist mehr als die Sprache des Ankunftslandes….“

„Eine doppeldeutige Fragestellung – wie viel Integration braucht Sprache, könnte man auch fragen! Und Sprache? Welche? Die des Residenzlandes? Also wie viel Deutsch in Deutschland? Um erfolgreich zu kommunizieren, müssen wir uns sprachlich verständigen können – um uns erfolgreich sprachlich verständigen zu können, müssen wir miteinander kommunizieren! Das ist die grundlegende Formel des Erfolgs. Die Bereitstellung vieler solcher Möglichkeiten, vor allem qualifizierter Möglichkeiten, unterstützt diese Formel. Aber Kommunikation ist mehr als Sprache, mehr als die Sprache des Ankunftslandes; sie impliziert auch Anerkennung dessen, was diejenigen mitbringen, die eine zusätzliche Sprache lernen; neben Anerkennung all der Hindernisse (wie Traumata, Diskriminierungserfahrung, Begabungen) auch, dass sie bereits viel können, dass sie gar selbst als vielsprachige Menschen gekommen sind. Integration heißt dann auch, aufbauen auf dem, was Menschen an Fähigkeiten mitbringen, heißt, an vorhandenem Wissen und Können anknüpfen, heißt, Wissensformen integrieren. Allein das Beherrschen der Sprache des Ankunfts-/Residenzlandes als Integrationsfaktor zu betrachten, wäre kontraproduktiv und widerspricht dem Anspruch an Differenziertheit und Heterogenität.“
Prof. Dr. Volker Hinnenkamp, Hochschule Fulda University of Applied Sciences, FB Sozial- und Kulturwissenschaften

 

Vielsprachige Realität

„Mehrsprachigkeit ist eine Bereicherung der Gesellschaft und jedes Einzelnen. Es besteht kein Grund zur Furcht, zur Angst vor Sprachund Identitätsverlust. Im Gegenteil. Die Zukunft dieses Landes und die Zukunft Europas wird mehrsprachig sein. Damit dies gelingt, ist Mut und gesellschaftlicher Einsatz nötig.“
Konrad Ehlich in: Tagesspiegel, 5. Januar 2015

Translanguaging: Zauberwort oder Perspektivwechsel? Überlegungen von Dott. Matilde Grünhage-Monetti und Susan Kaufmann.

Mehrsprachigkeit ist weltweit wesentlich weiter verbreitet, als Einsprachigkeit: Global gesehen greift die Mehrheit der Menschen auf mehr als eine Sprache zurück, um das eigene Leben zu bewältigen. Man bezeichnet sie als „bilingual oder multi-/ plurilingual“. „Monolinguale“ Menschen sind eher die Ausnahme.

Mehrsprachigkeit der Bevölkerung in Deutschland

Konkrete Zahlen über die Mehrsprachigkeit der Bevölkerung in Deutschland gibt es unseres Wissens nach nicht. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts lag die Zahl der in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund im Jahr 2015 bei 17,1 Millionen. Das entsprach einem Anteil von 21 Prozent der Gesamtbevölkerung. Wie viele Sprachen die Einzelnen mitbrachten, ist nicht erforscht. Wir wissen allerdings, dass ein erheblicher Anteil der Zugewanderten zusätzlich zum Deutschen mehr als eine Sprache beherrscht (z. B. Arabisch und Kurdisch). Das Statistikportal statista hat 2016 Ergebnisse einer Umfrage zu Fremdsprachenkenntnissen vorgelegt, derzufolge 63 Prozent der Befragten Englisch, 18 Prozent Französisch, neun Prozent Holländisch, sieben Prozent Italienisch und jeweils sechs Prozent Russisch und Spanisch einigermaßen gut sprechen und verstehen können.

Mehrsprachigkeit in der politischen Diskussion

Monolingualität hat bis in das 21. Jahrhundert den politischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs geprägt. Sowohl die Kolonialmächte als auch die Nationalstaaten haben – ihre Definitionsmacht im Sinne des nationalstaatlichen Gedankens „Sprache, Volk und Land sind eins“ nutzend – eine monolinguale Sprachpolitik zu ihren Gunsten betrieben. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Sprachenpolitik in Europa verändert. Mehrsprachigkeit im Sinne des Erlernens weiterer Sprachen oder des Erhalts der lokalen Sprache wie Walisisch etc. und deren Anerkennung als offizielle Sprache wird gefördert. In Deutschland wurde die vielsprachliche Realität von der Politik lange ignoriert, wie das bereits angesprochene Fehlen von Datenmaterial zeigt. Für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wird nach wie vor der Leitsatz „In Deutschland wird Deutsch gesprochen“, beziehungsweise – auf Migrantinnen und Migranten bezogen – „Die deutsche Sprache ist der Schlüssel zur Integration“ postuliert. Aufmerksamkeit gewann das Thema zum einen in Bezug auf die Sprachförderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die aufgrund ihrer Mehrsprachigkeit in den Schulen häufig benachteiligt werden. Und zum anderen in Bezug auf die Förderung des Sprachenlernens und die Nutzung der Sprachenvielfalt im Zusammenhang mit beruflichen Tätigkeiten, die in Zeiten der Wissensgesellschaft und der Globalisierung über Länder-, Sprach- und Kulturgrenzen hinausgehen. Betriebe benötigen zunehmend Mitarbeitende, die in mehreren Sprachen kommunizieren können.

Konzepte von Mehrsprachigkeit in der wissenschaftlichen Diskussion

In der internationalen Fachdiskussion hat sich der Begriff Translanguaging in Abgrenzung zu Bi-, Multi- beziehungsweise Plurilingualismus als zunehmend anerkannter Strang der Soziolinguistik etabliert. Im Mittelpunkt stehen die unterschiedlichen „Zeichen“, welche die Menschen erschaffen und benutzen, um die Anforderungen des Lebens zu bewältigen. Somit werden Bedeutung und Sinn sozial konstruiert und Sprache(n) als Teil sozialer Praxis verstanden. In der heutigen globalisierten Welt umfasst Translanguaging das ganze Repertoire sprachlichen Handelns von Mehrsprachlerinnen und -sprachlern. Es bezeichnet die Fähigkeit, die Sprachen, die einer Person zur Verfügung stehen, als ein integriertes System zu benutzen und nicht nur einzelne Sprachen separat einzusetzen. Mehrsprachige Menschen sind nicht zwei bzw. drei oder vier „monolinguals“ in einer Person, sondern Menschen, die ihr ganzes sprachliches Repertoire situationsentsprechend kombiniert, kreativ und interaktiv nutzen, um sich damit zu verständigen.

„Sprachen sind lebende und sich unaufhörlich verändernde Systeme.“
Susan Kaufmann, IQ Fachstelle Berufsbezogenes Deutsch

Das Konzept Translanguaging scheint uns den Umgang mit Sprachen besonders gut zu beschreiben in der heutigen Welt, die von Globalisierung, Superdiversität, Migration und Flucht sowie sich schnell entwickelnden Kommunikationstechnologien charakterisiert ist. Diese haben soziale Räume entstehen lassen, in denen sich transnationale Identitäten und Praktiken entwickelt haben und beständig weiterentwickeln. Man muss hervorheben, dass in Deutschland der Diskurs um Mehrsprachigkeit auch Entwicklungen wie Translanguaging miteinbezieht. Gleichwohl bestimmt das tradierte, additive Verständnis von Mehrsprachigkeit nach wie vor den politischen und gesellschaftlichen Diskurs, obwohl in der Forschung der Begriff „Mehrsprachigkeit“ heute auch im Sinne von Translanguaging benutzt wird.

Forderungen an Praxis, Wissenschaft und Politik

Sprachen sind lebende und sich unaufhörlich verändernde Systeme. Angemessen ist deshalb eine Haltung von Offenheit und Neugier im Hinblick auf Sprachen, von Respekt für unterschiedliche Sprachenkonstellationen und die Gleichbehandlung und Wertschätzung aller Sprachen. Nur so können wir der vielsprachigen Realität und Zukunft gerecht werden. In unterschiedlichen Bereichen unserer Gesellschaft sind (bildungspolitische) Maßnahmen nötig, um eine Kultur der Mehrsprachigkeit im Sinne von Translanguaging zu etablieren:

  • Im (vor-)schulischen Bereich müssen Good Practice-Projekte aufgegriffen und aktualisiert werden. Kinder müssen Möglichkeitsräume haben, alle sprachlichen Ressourcen einzubringen.
  • In der Aus- und Weiterbildung müssen Angebote gemacht werden, um mehrsprachigen Auszubildenden beziehungsweise Beschäftigten zu ermöglichen, die „Familien-Sprache“ oder Englisch als lingua franca zu professionalisieren, damit sie auch in der jeweiligen Sprache professionell handeln können. Die Beschäftigung von Lehrkräften mit Migrations- beziehungsweise mehrsprachlichem Hintergrund ist hier dringend zu empfehlen.
  • Lehrkräfte sowohl in der schulischen als auch außerschulischen Bildung haben einen großen Fortbildungsbedarf im Hinblick auf den Einbezug, die Unterstützung und Weiterentwicklung der Mehrsprachigkeit in ihren jeweiligen Zusammenhängen. Eine stärkere Unterstützung der Lehrkräfte (durch Fortbildungen und didaktische Handreichungen) ist dringend erforderlich.
  • In der kommunalen Verwaltung ist nach wie vor Deutsch die Amtssprache. Eine Wertschätzung der „Vielfalt im Amt" würde mehr realistische Flexibilität und mehr Hilfestellungen für die Mitarbeitenden bedeuten. Vorhandene Sprachkenntnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen anerkannt und einbezogen werden.

Über die Autoren

Dott. Matilde Grünhage-Monetti, z.Zt. Expertin des European Centre of Modern Languages des Europarats mit der Leitung des Projekts und Netzwerks Language for Work beauftragt

Susan Kaufmann, Autorin und Trainerin

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