
In der Grauzone
Im Interview in der IQ konkret 02/2021 erklärt die Soziologin Ewa Palenga-Möllenbeck, wie das Modell der 24-Stunden-Pflege funktioniert und weshalb mehr Regulierung und Kontrolle vonnöten sind
In zahlreichen deutschen Haushalten werden ausländische Pflegekräfte, vor allem Frauen und vor allem aus Osteuropa, zur Versorgung pflegebedürftiger Familienmitglieder beschäftigt. Warum ist das so? Wie ist dieser Bedarf entstanden?
Ewa Palenga-Möllenbeck: Deutschland hat ein familiaristisches Pflegesystem. Es gibt im internationalen Vergleich verschiedene Modelle, wie man Altenpflege organisieren kann. In Schweden zum Beispiel ist Altenpflege ein öffentliches Gut, das über Steuern finanziert wird. Es wird sehr viel investiert in stationäre Altenpflege. Diese trifft in Schweden auf große gesellschaftliche Akzeptanz. In Mittel- und Südeuropa haben wir es dagegen mit familiaristischen Pflegesystemen zu tun, das heißt, die Altenpflege stützt sich hauptsächlich auf die Familie.
Gibt es empirische Erkenntnisse dazu, wie viele Personen in Deutschland von Familienangehörigen gepflegt werden?
Palenga-Möllenbeck: Wir wissen aus der Pflegestatistik, dass ungefähr 70 Prozent der Empfänger*innen von Pflegeleistungen in Deutschland zu Hause versorgt werden, und zwar zum großen Teil von Pflegedienstleistern, aber eben oft in Kooperation mit der Familie. Die Familie ist hier nicht wegzudenken. Diese familiären Ressourcen nehmen in den letzten Jahren ab. Das hängt mit vielen Faktoren zusammen, unter anderem mit der zunehmenden Mobilität. Viele Kinder können sich einfach nicht mehr um ihre Eltern kümmern, weil sie in anderen Städten wohnen. Ein weiterer Grund ist, dass immer mehr Frauen berufstätig sind.
Und diese Lücken füllen nun Pflegekräfte aus dem Ausland...
Palenga-Möllenbeck: Ja, so ist in den letzten 25 Jahren dieser Markt entstanden. Es sind Migrant*innen vor allem aus Osteuropa, an erster Stelle aus Polen, die nach Deutschland kommen. Zwischen den beiden Ländern gibt es eine lange Tradition der Migration, zum Beispiel im Agrarsektor, aber eben auch im häuslichen Bereich. In den 1980er und 1990er Jahren fand die Beschäftigung von Migrant*innen in deutschen Haushalten noch undokumentiert statt, das heißt, dass man eben hierzulande undokumentiert gearbeitet hat. Mit dem EU-Beitritt der osteuropäischen Staaten hat sich das geändert.
Können Sie einschätzen, wie groß dieser Markt ist?
Palenga-Möllenbeck: Auch wenn sich die Arbeitsbeziehungen zunehmend formalisieren, findet ein großer Teil der migrantischen Arbeit im häuslichen Bereich weiterhin in einer Grauzone statt. Deshalb gibt es hier keine zuverlässigen Statistiken. Ein weiteres Problem: Es handelt sich um Mobilität, nicht um klassische Einwander*innen, die nach Deutschland kommen und hier registriert werden. Es gibt natürlich Schätzungen. Demnach sind in dieser Form der Care-Arbeit zwischen 300.000 und 600.000 Arbeitskräfte in Deutschland beschäftigt.
Wie funktioniert die Vermittlung der Pflegekräfte an deutsche Haushalte?
Palenga-Möllenbeck: Anfangs lief die Vermittlung informell ab, zum Beispiel über Kirchengemeinden und vor allem über Mundpropaganda. In den letzten zehn Jahren hat sich die Art und Weise der Vermittlung verändert. Der Grund ist die Digitalisierung der Arbeitsvermittlung. Es gibt Plattformen im Internet, die Arbeitskräfte aus Ungarn oder Polen nach Deutschland vermitteln. Zweiter Grund ist, dass Vermittlungsagenturen zunehmend tätig sind. Wir haben 2007 die Agenturen hier in Deutschland gezählt: Es waren damals 30 Agenturen. Ende 2017 haben wir die Zählung wiederholt und kamen auf insgesamt 500 Agenturen in Deutschland und Polen.
Ein deutlicher Sprung...
Palenga-Möllenbeck: In der Tat. Hier ist ein Markt entstanden, der permanent in Bewegung ist. Es gibt Agenturen, die auf der deutschen und polnischen Seite lose miteinander kooperieren. Es gibt Agenturen in Deutschland, die eine Niederlassung in Polen haben und umgekehrt. Die Landschaft der Agenturen ist heterogen und groß.
In welchem rechtlichen Rahmen findet die Vermittlung über die Agenturen statt? Welche Modelle gibt es?
Palenga-Möllenbeck: Es gibt drei Modelle: Angestelltenmodell, Selbstständigkeit und Entsende-Modell. Beim Angestelltenmodell werden die Betreuungskräfte direkt durch die Pflegebe- dürftigen oder deren Angehörigen beschäftigt – sie sind Arbeitgeber, die Betreuungskräfte Arbeitnehmer. Es handelt sich also um ein klassisches Arbeitsverhältnis mit allen Arbeitnehmerrechten. Dies wird aber kaum genutzt. Bei der Selbstständigkeit schließen die Betreuungskräfte als Auftragnehmer Werkverträge mit den Haushalten und arbeiten als Selbstständige auf eigene Rechnung und Gefahr. Am häufigsten kommt in Deutschland jedoch das Entsende-Modell vor, bei dem, ebenso wie bei den beiden anderen Modellen meist zwei Unternehmen im Spiel sind. Die Arbeitsteilung zwischen den beiden Unternehmen sieht so aus, dass die deutsche Agentur Kunden in Deutschland sucht und an das polnische Unternehmen vermittelt, das dann vom Pflegehaushalt mit der Erbringung der Pflegeleistung vertraglich beauftragt wird. Das polnische Unternehmen „entsendet“ dazu eigene Pflegekräfte nach Deutschland und schließt dazu mit diesen einen Vertrag nach polnischem Recht. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen Arbeitsvertrag, sondern um einen freien Dienstvertrag. Allerdings sind in Polen seit zwei Jahren auch für diese nicht arbeitsrechtlich regulierten Dienstverträge Sozialversicherungsbeiträge abzuführen.
Welche Ausbildung haben die Arbeitskräfte, die von den Agenturen angeworben werden?
Palenga-Möllenbeck: Care-Arbeit ist seit je her weiblich konnotiert. Das impliziert in gewisser Weise, dass jede Frau durch ihre Sozialisation diese Arbeit leisten kann. Dieses Stereotyp spiegelt sich auch in den Berufsgruppen wider, die von den Agenturen für die Care-Arbeit in deutschen Privathaushalten angeworben werden. Es sind nämlich alle möglichen Berufsgruppen vertreten. Krankenschwestern natürlich, aber eben auch Buchhalterinnen, Frauen mit Hochschulabschlüssen oder mittleren Abschlüssen. Da gibt es im Grunde alles. Qualifikationen werden von den Agenturen auch nicht erfragt.
Das ist überraschend. Wie wählen die Agenturen denn dann geeignete Kandidat*innen aus?
Palenga-Möllenbeck: Was hier zählt, ist Erfahrung in familiärer Pflege. Was außerdem sowohl von den Agenturen als auch den deutschen Haushalten hoch geschätzt wird, sind deutsche Sprachkenntnisse. Diese wirken sich auch auf die Bezahlung der Pflegekräfte aus. Wobei: Der Begriff „Betreuungskräfte“ ist pas- sender, denn hier werden keine Fachkräfte gesucht. Die Care- Arbeiter*innen in den Haushalten sollen sich mit den Pflegebedürftigen unterhalten, sie umsorgen und ihnen aus Büchern vorlesen.
Unter welchen Bedingungen arbeiten die Betreuungskräfte in Deutschland und welchen arbeitsrechtlichen Schutz haben sie?
Palenga-Möllenbeck: Im Grunde sind sie nicht geschützt. Es gibt Regelungen für die Arbeitszeit, die EU-weit gelten. Und vertraglich ist es meistens auch geregelt, dass diese Personen nicht länger als acht Stunden pro Tag arbeiten. De facto sieht es aber häufig anders aus. Arbeitszeit und Ruhezeit fließen ineinander. Es ist auch rechtlich im Grunde gar nicht abgesichert, weil wenige Personen im so genannten Arbeitgebermodell arbeiten, bei dem sie als Arbeitnehmer im klassischen Sinne auch vom Arbeitsschutz profitieren. Das handhaben so aber nur zwei Verbände, die Pflegekräfte für private Haushalte vermitteln: der Vermittlungsdienst FairCare, der im Verbund der Diakonie arbeitet, und CariFair, ein Angebot des Caritasverbands für das Erzbistum Paderborn. Aber auch diese können die Einhaltung der Arbeitszeiten letztlich nicht garantieren, da diese auf Selbst- verpflichtungen der privaten Haushalte als Arbeitgeber beruhen. Das Grundproblem ist, dass dieser Bereich in Deutschland kaum reguliert ist. Es gibt keine spezifische Regelung, wie so eine Vermittlung und diese Arbeit modellhaft auszusehen hat.
Was müsste denn geschehen, damit solche Missstände wirksam bekämpft werden können?
Palenga-Möllenbeck: Mehr Regulierung, mehr Kontrolle. Der Staat muss sich in diesem Bereich mehr einmischen.
Immerhin beschäftigen sich deutsche Gerichte inzwischen mit dem Thema. Das Bundesarbeitsgericht hat am 24. Juni 2021 entschieden, dass nach Deutschland in einen Privathaushalt entsandte ausländische Betreuungskräfte Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn für geleistete Arbeitsstunden haben. Dazu gehört laut dem Urteil auch Bereitschaftsdienst. Welche Auswirkungen wird das Urteil auf die Arbeitsbedin- gungen und die Bezahlung haben?
Palenga-Möllenbeck: Das Urteil lässt sich nicht ohne weiteres auf unseren Fall übertragen, da die bulgarische Betreuungskraft beim entsendenden Unternehmen fest angestellt war und sich ihre Arbeitsrechte einklagen lassen. Polnische Betreuer*innen arbeiten dagegen als freie Mitarbeiter*innen (bei der Entsendung) oder Selbstständige und sollen ihre Honorare und Arbeitszeiten in diesen Modellen selbst bestimmen. Das Urteil ist also grundsätzlich zu begrüßen, denn es hat Signalwirkung und stößt die längst überfällige Debatte über die Pflege in Deutschland und deren Finanzierung und Nachhaltigkeit vielleicht neu an. Ich erwarte allerdings nicht, dass es den transnationalen Pflegemarkt als Ganzes kurzfristig stark verändern wird. Eher ist damit zu rechnen, dass nach diesem Urteil der Anteil der fest angestellten Pflegekräfte noch stärker zurückgehen und der Anteil der formell Selbständigen zunehmen wird – eben weil für diese nicht die Arbeitnehmerrechte gelten, die die fest angestellte bulgarische Pflegerin nun eingeklagt hat. (fe)
Im Interview
Dr. Ewa Palenga-Möllenbeck ist Soziologin. Seit 2008 forscht und lehrt sie am Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung des Instituts für Soziologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Care, Gender, Migration, Mobilität, soziale Ungleichheiten und Diversität.