Herausforderungen an die berufliche Bildung

Die berufliche Weiterbildung – Einschliesslich des Erwerbs eines erstmaligen oder neuen Berufsabschlusses im Erwachsenenalter – stellt sich unter mehreren Aspekten als Schlüsselfrage der aktiven Arbeitsmarktpolitik dar.

1. Der anhaltende Beschäftigungsaufschwung hat die Polarisierung des deutschen Arbeitsmarktes entlang von Qualifikationslinien noch deutlicher sichtbar gemacht. Bei allgemein sinkender Arbeitslosigkeit ist die relative Arbeitslosenquote von Erwerbspersonen ohne Berufsausbildung vom einstmals Doppelten auf das 2,5-Fache der Gesamtarbeitslosenquote angestiegen. Eine weitere Reduzierung der Arbeitslosigkeit lässt sich nur erreichen, wenn es in größerem Umfang gelingt, Arbeitslosen zu einem beruflichen Abschluss zu verhelfen. Notwendig sind finanzielle Anreize („Weiterbildungsgeld“ als anrechnungsfreier Zuschlag zum ALG II – analoge Regelungen auf mindestens gleichem Niveau im SGB III), Flexibilisierung des „Verkürzungsgebots“ der Maßnahmen, Möglichkeit der Modularisierung in aufeinander aufbauende Teilqualifikationen und die Schaffung geeigneter Lernumgebungen, u. a. in Kombination mit geförderter Beschäftigung.

2. Absehbare Entwicklungsschritte der Digitalisierung werden einen neuen Schub des Strukturwandels von Tätigkeiten und Arbeitsplätzen auslösen; Energie- und Mobilitätswende wirken in ähnlicher Weise. Nach den Schätzungen des IAB führt die Digitalisierung weniger zu einer weiteren Abnahme von Helfertätigkeiten als vielmehr zur Algorithmisierung der Routineanteile von Facharbeitertätigkeiten, während die Nachfrage nach komplexen Spezialistentätigkeiten und hoch komplexen Tätigkeiten in etwa gleichem Maße zunehmen wird. Die mögliche „Rettung“ für etwa 2 Mio. beruflich Ausgebildete besteht folglich in der Weiterbildung zu Spezialisten. Das jüngst beschlossene „Qualifizierungschancengesetz“ erweitert die Möglichkeiten zur Förderung der Weiterbildung von Beschäftigten erheblich. Es bleibt nun zunächst abzuwarten, ob es von Betrieben und Beschäftigten angenommen wird.

3. Nach der IAB-Stellenerhebung stellt Mangel an geeigneten Arbeitskräften inzwischen für mehr Betriebe eine Beeinträchtigung ihrer wirtschaftlichen Aktivität dar als der Auftragsmangel. Mit einer Betroffenheit von weniger als 15 Prozent der Betriebe ist das kein flächendeckender Fachkräftemangel, aber doch in der Langzeitbetrachtung ein Rekordwert. Bei inzwischen hoher Erwerbsbeteiligung der Frauen in Deutschland, aber zugleich nach den Niederlanden niedrigster durchschnittlicher Arbeitszeit in Europa, stellt eine Ausweitung der Arbeitszeit von Teilzeitbeschäftigten die wichtigste Arbeitskraftreserve dar. Eine bloße Ausweitung der bisher ausgeübten Tätigkeiten (darunter Minijobs mit besonders viel „Luft nach oben“) dürfte aber in den meisten Fällen an mangelndem Bedarf der Betriebe oder an mangelndem Interesse der Betroffenen scheitern. Nur bei Wechsel auf andere, eher höherwertige und höher bezahlte Tätigkeiten, oft auch in Kombination mit einem Wechsel des Arbeitgebers bzw. der Arbeitgeberin, werden sich eingefahrene Arrangements betrieblicher und familialer Arbeitsteilung dynamisieren lassen. Das wird in den meisten Fällen – selbst bei vorhandener beruflicher Qualifikation – nicht machbar sein ohne Weiterbildung. Für Beschäftigte fehlen jedoch Förderangebote, die auch ohne Mitwirkung des derzeitigen Arbeitgebers bzw. der Arbeitgeberin wahrnehmbar sind. Hierzu muss die Verengung des ABFG auf „Fortbildung“ überwunden werden. Notwendig ist außerdem eine auf Dauer gesicherte und flächendeckend sichtbare Infrastruktur der Weiterbildungs- und Laufbahnberatung. Die Chance, dass eine in ihrem Handlungshorizont deutlich erweiterte „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“ diese Aufgabe übernehmen könnte, wurde soeben durch die halbherzige und beiläufige Abhandlung des Themas im „Qualifizierungschancengesetz“ vertan. Hintergrund ist der Widerstand der Arbeitgeberorganisationen gegen alles, was die berufliche Mobilität von Beschäftigten steigern könnte. Das unternehmerische Einzelinteresse an der Bindung von Arbeitskräften obsiegt über das Gesamtinteresse an der Vermehrung des fachlich qualifizierten Arbeitsangebots.

4. Arbeitsmigration kann einen Beitrag zur Verringerung von Fachkräfteengpässen leisten. Für die weltweit bei Migration übliche Dequalifizierung – die erste Generation nimmt beruflichen Statusverlust hin, weil sie trotzdem mehr verdient als im Herkunftsland – bietet die Struktur des deutschen Arbeitsmarktes jedoch keinen Raum (siehe 1.). Deutschland kann sich Einwanderung ohne massive Investitionen in Ausund Weiterbildung nicht leisten, weil wir sonst am Ende nicht Fachkräfte, sondern Sozialleistungen Beziehende haben werden. Dabei ist es ziemlich egal, ob die Zugewanderten selbst Leistungsempfänger werden oder ob sie Ansässige in diesen Status verdrängen. Wer eine „Unterschichtung“ des deutschen Arbeitsmarktes allein durch hohe Hürden bezüglich Sprach- und Fachqualifikation verhindern will, wird am Ende ein Einwanderungsgesetz, aber keine Einwanderung haben. Es zeichnet sich eine absurde Konstellation ab, bei der eine berufliche Ausbildung in Deutschland eher nach Fluchtmigration – selbst wenn sie nur in Duldung führt – als nach frei gewählter Migration erreichbar ist.

5. Fachkräfte nach dem sehr spezifischen deutschen Verständnis sind in der Welt rar; wo sie vorhanden sind, geben die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse eher keinen Anlass zur Wanderung. Wer als Fachkraft die Auswahl unter mehreren wirtschaftlich hochentwickelten Zielländern hat, wird aus sprachlichen Gründen und wegen der deutschen Fixierung auf die Papierform eher nicht Deutschland wählen. Deutschland kann Fachkräfte folglich nicht „fertig importieren“, sondern muss sie ausbilden bzw. diejenigen, die im Herkunftsland schon Fachkraft-Niveau erreicht hatten, im neuen Umfeld wieder auf diesen Stand bringen. Bei akademisch Ausgebildeten wird hierzu in vielen Fällen eine akademische Nachqualifizierung erforderlich sein, die in einem verkürzten Studiengang zu einem deutschen Hochschulabschluss führt. Der Weg zu einer Sicherung des Unterhalts nach dem BAföG ist jedoch dornig, da der Gesetzeswortlaut die Förderung bei bereits vorhandenem Abschluss auszuschließen scheint und da die BAföG-Verwaltung vielfach nicht willens oder in der Lage ist, die korrigierende höchstrichterliche Rechtsprechung umzusetzen. In ähnlicher Weise wird sich bei im Ausland beruflich Qualifizierten die Frage stellen, wie sie in die neue Systematik der Weiterbildungsförderung für Beschäftigte (siehe 2.) einzuordnen sind, wenn parallel das Anerkennungsverfahren läuft: als Personen mit „fehlendem Berufsabschluss“ oder als Personen, deren Berufsabschluss mindestens vier Jahre zurückliegt, oder – nach erfolgreich abgeschlossenem Anerkennungsverfahren – als nicht förderbare Personen mit „frischem“ Abschluss? Gesetze werden in Deutschland nach wie vor gemacht, ohne an Lebens- und Bildungsverläufe zu denken, die herkunfts- und migrationsbedingt vom üblichen inländischen Muster abweichen.

Über den Autor

Dr. Matthias Knuth, ehemaliger Leiter einer Forschungsabteilung am Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen, jetzt im Ruhestand

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