Gastbeitrag der IQ Fachstelle Einwanderung

Analyse zur Auswirkung von Corona-Eindämmungsmaßnahmen
auf die Arbeitsmarktintegration von EU-Arbeitnehmer*innen

Seit Beginn der Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus führen die gesunkene Nachfrage, Lieferschwierigkeiten und weltweite Produktionsstopps zu einem drastischen Rückgang der deutschen Wirtschaft. Dies wirkt sich unmittelbar auf den deutschen Arbeitsmarkt sowie die damit verbundene Beschäftigungssituation der Arbeitnehmer*innen aus. Besonders betroffen sind Migrant*innen aus der EU.

Arbeitssuchende und Arbeitslose

Die wirtschaftliche Stagnation 2019 in Deutschland führte bereits seit Frühjahr 2020 vermehrt zu steigenden Zahlen der Arbeitssuchendmeldung von Arbeitnehmer*innen aus der EU. Im Zuge der Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus steigen seit März 2020 die Arbeitssuchendmeldungen für Personengruppen unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten deutlich an (s. Abb. 1). Am stärksten betroffen sind Arbeitnehmer*innen aus der EU und dabei insbesondere aus den Staaten der EU-Osterweiterung (EU-11). Dies ist auf die Bereiche, in denen sie i. d. R. beschäftigt sind, sowie auf die Art ihrer Beschäftigung zurückzuführen. Zudem zeigen sich große Disparitäten zwischen den Bundesländern: Unter den Staatsangehörigen der EU und der EU-11 weisen insbesondere Bayern, Baden-Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern den höchsten Anstieg der Arbeitssuchendenzahlen gegenüber dem Vorjahr auf. Dies könnte mit der Bedeutung der betroffenen Branchen in diesen Bundesländern (verarbeitendes Gewerbe und Automobilindustrie in Bayern und Baden-Württemberg, Gastwirtschaft und Tourismus in Mecklenburg-Vorpommern) erklärt werden.

Auch die Zahl der Arbeitslosen nimmt seit April 2020 bei allen Personengruppen im Vergleich zum Vorjahresmonat um zweistellige Prozentwerte zu. Der Zuwachs bei EU-Staatsangehörigen und insbesondere bei Staatsangehörigen der EU-11 ist mit 46,7 bzw. 49,3 Prozent  besonders hoch, ebenso bestehen auch hier große regionale Unterschiede: Wiederum waren es im Juli 2020 Bayern, Baden-Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern, die unter den Staatsangehörigen der EU und der EU-11 die höchsten Anstiege der Arbeitslosenzahlen verzeichneten.

Der überproportionale Anstieg der Arbeitslosigkeit unter EU-Zugewanderten ist u. a. darauf zurückzuführen, dass sie häufig in von den Eindämmungsmaßnahmen besonders betroffenen Wirtschaftszweigen und hier vor allem in kleineren Betrieben auf Helferniveau beschäftigt sind. Dazu kommt oftmals eine nur kurze Betriebszugehörigkeit.

Unterschiede nach Männern und Frauen

Auch hinsichtlich der Betroffenheit von Männern und Frauen bestehen Unterschiede. So ist der Zuwachs bei den arbeitssuchend gemeldeten Frauen aus Drittstaaten und insbesondere aus den Asylherkunftsstaaten höher als bei Männern.Dies deutet darauf hin, dass Frauen in Berufszweigen arbeiten, die stärker von den Auswirkungen der Corona-Eindämmungsmaßnahmen betroffen sind (bspw. Gastgewerbe), und oftmals über eine noch kürzere Betriebszugehörigkeit verfügen als Männer.

Bei EU-Staatsangehörigen und  v. a. bei Staatsangehörigen aus der EU-11 zeigt sich jedoch ein anderes Bild: Hier sind Männer stärker als Frauen betroffen und melden sich häufiger arbeitssuchend bzw. sind arbeitslos. Eine mögliche Erklärung dafür wäre, dass EU-Frauen eher in systemrelevanten Berufen, EU-Männer hingegen in Wirtschaftszweigen beschäftigt sind, die von den Eindämmungsmaßnahmen und der Wirtschaftskrise stärker betroffen sind (bspw. in Transport und Logistik, in der Metall-, Elektro- und Stahlindustrie oder im Baugewerbe).1

Kein signifikanter Unterschied nach Bildungshintergrund und Anforderungsniveau

Die von der Pandemie und Eindämmungsmaßnahmen ausgelöste Wirtschaftskrise trifft alle EU-Arbeitnehmer*innen ungeachtet ihres Berufshintergrundes.
Bei den Arbeitssuchendmeldungen allerdings ist der Anstieg unter den Spezialist*innen und hier vor allem bei EU-Staatsangehörigen, insbesondere bei Staatsangehörigen der EU-11, besonders hoch. Bei den Arbeitslosen sind in dieser Gruppe die größten Zuwächse unter Spezialist*innen, Helfer*innen und Fachkräften zu verzeichnen.

Klassifikation der Berufe 20102

Helfer*in: Helfer- und Anlerntätigkeiten (einfache, wenig komplexe (Routine-)Tätigkeiten; i. d. R. kein formaler beruflicher Bildungsabschluss)

Fachkraft: Fachlich ausgerichtete Tätigkeiten (fundierte Fachkenntnisse und Fertigkeiten nötig; zwei- bis dreijährige Berufsausbildung)

Spezialist*in: Komplexe Spezialist*innentätigkeiten (Spezialkenntnisse und -fertigkeiten, Planungs- und Führungsaufgaben, Meister oder Technikerausbildung, Bachelorabschluss)

Expert*in: Hoch komplexe Tätigkeiten (Expertenkenntnisse, Leitungs- und Führungsaufgaben, mindestens vierjährige Hochschulausbildung)

Nachteile aufgrund prekärer Arbeits- und Unterbringungsbedingungen

Neben der zunehmenden Arbeitslosigkeit sind viele EU-Zugewanderte aufgrund des Bereichs, in dem sie tätig sind, und den dort besonders stark verbreiteten schlechten Arbeits- und Unterbringungsbedingungen sowie den häufig unzureichenden Arbeitsschutzvorkehrungen einem höheren Risiko ausgesetzt, selbst an dem Coronavirus SARS-CoV-2 zu erkranken. Beispiele hierfür sind sowohl aus der fleischverarbeitenden Industrie als auch aus der Saisonarbeit in der Landwirtschaft bekannt. Die Bedingungen, unter denen EU-Zugewanderte in diesen Branchen oftmals arbeiten, gewinnen im Zusammenhang mit der Pandemie an stärkerer Brisanz.

Fazit

Die Arbeitnehmer*innen aus den EU-Staaten gewinnen in den letzten Jahren für den deutschen Arbeitsmarkt immer mehr an Bedeutung: Der Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung  in Deutschland 2019 ist mit 20,6 Prozent auf die EU-Staatsangehörigen zurückzuführen.3 Sie sind zudem häufig in Bereichen beschäftigt, die in Zeiten von Krisen wie der aktuellen als systemrelevant gelten. Die derzeitigen Entwicklungen legen aber auch offen, dass EU-Zugewanderte von den negativen Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt besonders stark betroffen sind. Die Folgen von prekären und gesundheitlichen Risiken ausgesetzter Beschäftigung werden zu Zeiten von Corona einmal mehr deutlich und in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Im Kontext von Fachkräftegewinnung und -bindung rücken die Vermeidung von prekären Arbeitsbedingungen und die Steigerung der Attraktivität des Standortes Deutschland in den Fokus. Eine gelungene, faire Arbeitsmarktintegration, die einen langfristigen Verbleib der Arbeitskräfte in Deutschland fördert, gewinnt damit an Dringlichkeit und Bedeutung.


Gastbeitrag von Dr. Paul Becker, IQ Fachstelle Einwanderung, für den Newsletter 3/2020 der IQ Fachstelle Beratung und Qualifizierung 

Die Fachstelle Einwanderung analysierte erstmalig im Mai 2020 die Auswirkungen der Corona-Eindämmungsmaßnahmen auf die Situation von Personen mit und ohne deutsche Staatsangehörigkeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Eine aktualisierte und erweiterte Analyse mit interaktiven Grafiken mit regionalen Zahlen (Stand August 2020) steht auf der Webseite der IQ Fachstelle Einwanderung zur Verfügung.

Quellen und weitere Hinweise:


Abbildungen 1 und 2:  [BA] Bundesagentur für Arbeit,
2020d4: Migrationsmonitor (Monatszahlen). Deutschland. Juli 2020;
2020e: Migrationsmonitor (Monatszahlen). Land Baden-Württemberg. Juli 2020;
2020e1: Migrationsmonitor (Monatszahlen). Land Bayern. Juli 2020;
2020e2: Migrationsmonitor (Monatszahlen). Land Berlin. Juli 2020;
2020e3: Migrationsmonitor (Monatszahlen). Land Brandenburg. Juli 2020;
2020e4: Migrationsmonitor (Monatszahlen). Land Bremen. Juli 2020;
2020e5: Migrationsmonitor (Monatszahlen). Land Hamburg. Juli 2020;
2020e6: Migrationsmonitor (Monatszahlen). Land Hessen. Juli 2020;
2020e7: Migrationsmonitor (Monatszahlen). Land Mecklenburg-Vorpommern. Juli 2020;
2020e8: Migrationsmonitor (Monatszahlen). Land Niedersachsen. Juli 2020;
2020e9: Migrationsmonitor (Monatszahlen). Land Nordrhein-Westfalen. Juli 2020;
2020e10: Migrationsmonitor (Monatszahlen). Land Rheinland-Pfalz. Juli 2020;
2020e11: Migrationsmonitor (Monatszahlen). Land Saarland. Juli 2020;
2020e12: Migrationsmonitor (Monatszahlen). Land Sachsen. Juli 2020;
2020e13: Migrationsmonitor (Monatszahlen). Land Sachsen-Anhalt. Juli 2020;
2020e14: Migrationsmonitor (Monatszahlen). Land Schleswig-Holstein. Juli 2020;
2020e15: Migrationsmonitor (Monatszahlen). Land Thüringen. Juli 2020.

1) Die IQ Fachstelle Einwanderung strebt dazu weitere Analysen an. Die Ergebnisse werden voraussichtlich Ende Oktober in die auf der Homepage der Fachstelle Einwanderung abrufbaren Studie integriert und diese entsprechend aktualisiert. Siehe dazu: IQ Fachstelle Einwanderung: „Corona-Krise: Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit von wirtschaftlichen Folgen besonders stark betroffen“, unter https://www.netzwerk-iq.de/foerderprogramm-iq/fachstellen/fachstelle-einwanderung/publikationen/studien/arbeitsmarktintegration-und-corona.

2) Klassifikation der Berufe, definiert nach: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: Glossar zu den IAB-Forschungsberichten, unter:  http://doku.iab.de/arbeitsmarktdaten/arbeitsmarktspiegel/Glossar.pdf, zuletzt aufgerufen, am 14.09.2020.

3) Eigene Berechnungen der IQ Fachstelle Einwanderung nach: Bundesagentur für Arbeit: Beschäftigte nach Staatsangehörigkeiten (Quartalszahlen). Deutschland, Länder und Kreise. Stichtag 31. Dezember 2019. Erstellungsdatum 17.07.2020.

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