Gründungsberatung: „Wir gehen dahin, wo unsere Zielgruppe ist“

Flächendeckende Gründungsberatung, niederschwelliger Zugang, das Ganze in 17 Sprachen. Was die österreichische Hauptstadt anders als andere Städte macht, erläutert Tülay Tuncel von der Wirtschaftsagentur Wien.

Die Stadt Wien setzt seit vielen Jahren auf Migrantenökonomie und internationale Gründerinnen und Gründer. Wie hat sich dieses Feld über die Jahre entwickelt?

Tülay Tuncel: Wir haben 2008 mit einer ersten Erhebung begonnen, uns die Dynamik der migrantischen Ökonomie anzusehen. Danach wurde im Rahmen eines EU-Projekts das mehrsprachige Beratungsangebot im Rahmen der bestehenden Serviceangebote der Wirtschaftsagentur Wien etabliert. Aufgrund der hohen Nachfrage haben wir die Zahl der Sprachen schrittweise erweitert. Mittlerweile beraten wir in 17 Sprachen. 2015 haben wir im Rahmen der Entwicklungen im Flüchtlingsbereich unser Angebot auf Arabisch und Farsi ausgeweitet, um hier den Bedürfnissen der Zielgruppe nahe zu kommen. Wir sind in der muttersprachlichen Beratung sehr gut aufgestellt und haben auch einen sehr niederschwelligen Zugang zu Informationen. Wir bieten Workshops in mehreren Sprachen an. Auf Bezirksebene arbeiten wir seit vielen Jahren mit dem Wiener Volkshochschulverband zusammen. Wir sind damit dort präsent, wo sich unsere Zielgruppe befindet.

Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Volkshochschulverband?

Tuncel: Wir haben überlegt, wie wir unser Angebot optimieren können, und deshalb 2011 eine Studie zum Thema Migrantenökonomie in Auftrag gegeben. Ein Ergebnis war, dass die Mobilität in der Migrantenökonomie sehr eingeschränkt ist: Migrantinnen und Migranten wohnen meist auch dort, wo sie einer selbständigen Tätigkeit nachgehen. Für uns war es deshalb wichtig, mit unseren Angeboten genau dort hinzugehen, wo die Menschen leben. Die Wiener Volkshochschulen sind in den Wiener Bezirken flächendeckend präsent. Deshalb bieten wir unsere Workshops gemeinsam mit den Volkshochschulen an. Dadurch ist die Nachfrage nach den Workshops merklich angestiegen.

An welchen empirischen Befunden machen Sie die dynamische Entwicklung der Migrantenökonomie in Wien fest?

Tuncel: Rund 38 Prozent der Unternehmerinnen und Unternehmer in Wien haben einen Migrationshintergrund. Bei den jährlichen Neugründungen in Wien liegt diese Zahl bereits über 50 Prozent. Durch die Flüchtlingsbewegungen 2015 und 2016 haben wir erfahren, dass es durchaus Gruppen gibt, die ein größeres Interesse daran haben, sehr rasch den eigenen Arbeitsplatz zu schaffen.

Welche Gruppen sind das?

Tuncel: Gerade bei den Menschen aus Syrien haben wir die Erfahrung gemacht, dass sie sehr rasch eigene Geschäfte aufgemacht haben, einige davon haben bereits mehrere Filialen in Wien. Auch die Gruppen, die schon lange hier sind, zum Beispiel Menschen aus der Türkei, aus Bosnien, Kroatien oder Serbien, zeigen nach wie vor eine interessante Gründungsdynamik. Genauso wie die russischsprachige Community, die unsere Beratungsangebote sehr gerne wahrnimmt.

In welchen Phasen der Gründung unterstützen Sie Ihre Zielgruppe, und wie geschieht das konkret?

Tuncel: Wir greifen in unterschiedlichen Phasen ein. Uns geht es darum, Menschen sehr früh die Selbständigkeit als eine Alternative zur unselbständigen Tätigkeit zugänglich zu machen. Wer in Spanien 20 Jahre selbständig war, soll auch in Wien diese Möglichkeit bekommen und keine Zugangsbarrieren haben, diese Aktivität fortzusetzen. Das ist ein grundsätzlicher Gedanke innerhalb der Stadt. Deswegen sind wir in den städtischen, integrationspolitischen Strukturen mit unseren Unterstützungsangeboten präsent und stellen immer auch Informationen dazu bereit, wie Menschen sich selbständig machen oder ihren unternehmerischen Weg fortsetzen können. Ich glaube, es ist charakteristisch für Wien, dass wir in unseren Beratungsangeboten die unselbständige und die selbständige Erwerbstätigkeit gleichberechtigt parallel fahren – ganz egal, ob jemand schon eine Gründungsidee oder einen Businessplan hat oder nicht. Um hier einen möglichst breiten Zugang zu haben, bieten wir schon diese frühzeitigen Informationen in 17 Sprachen an.

Wie geht es nach dieser Erstinformation weiter?

Tuncel: Neben Workshop-Angeboten bieten wir individuelle Gespräche für Personen an, die eine konkrete Idee haben, aber noch ausloten möchten, ob die Reise eine realistische ist und ob die Rahmenbedingungen passen. Jedes Jahr führen wir bei uns im Haus rund 400 solcher Face-to-Face-Gespräche mit Personen, die eine konkrete Gründungsidee haben. Wenn sich dann herausstellt, dass die Idee umsetzbar ist, setzen wir mit einem Coaching das Beratungsangebot fort und unterstützen die Person Schritt für Schritt. Was uns besonders auszeichnet, ist unsere Verankerung in den städtischen Strukturen. Wir haben einen direkten Draht zur Gewerbebehörde, zur Wirtschaftskammer und zu anderen Stellen, die Fragen unserer Zielgruppe beantworten können, beispielsweise nach der Anerkennung von Qualifikationen.

Was empfehlen Sie anderen Städten, die internationale Gründende unterstützen möchten?

Tuncel: Es ist wichtig zu signalisieren, dass sich die Stadt mit der zugewanderten Community sehr positiv und nicht defizitorientiert beschäftigt. Wir wissen, das sind die potenziellen Arbeitgeberinnen und -geber von morgen. Das sind die Personen, die unsere Stadt mit ihren Ideen lebenswert machen. Wien ist nicht umsonst bereits mehrmals in Folge zur lebenswertesten Stadt der Welt ausgezeichnet worden. Ich denke, man sollte auch das Thema Sprache nicht defizitorientiert angehen. Sprache ist ein sehr wichtiger Faktor, um Menschen dort abzuholen, wo sie stehen. Gerade wenn es um die Investition von Geldern geht, ist Sprache wichtig, um Sicherheit und Vertrauen zwischen Beratenden und Beratenen aufzubauen. Das funktioniert am erfolgversprechendsten in der Sprache, die Menschen am besten beherrschen.

Welche Rolle spielen Deutschkurse bei der Gründungsunterstützung?

Tuncel: Klassische Deutschkurse bieten wir nicht an, aber Unterstützung beim Erlernen von Wirtschaftsdeutsch oder bei der Korrespondenz auf Deutsch.

Wie verstehen Sie Ihre Arbeit mit Blick auf ansteigende Ressentiments gegenüber Migrantinnen und Migranten?

Tuncel: In ganz Europa beschäftigt man sich im sozialen und politischen Kontext sehr defizitorientiert mit Migrantinnen und Migranten. Dabei wissen wir, dass die Wertschöpfung durch Zugewanderte in Wien beachtlich ist, dass sie Arbeitsplätze schaffen und sichern. Gerade im Bereich der Migrantenökonomie hat die Politik eine große Chance, das mitunter sehr emotionalisierende Thema Zuwanderung aus einem vollkommen anderen Blickwinkel zu betrachten. Deshalb beschränken wir uns auch nicht darauf, zu beraten und lassen es dann gut sein. Wir versuchen immer wieder, Beispiele guter Praxis medial vor den Vorhang zu holen und aufzuzeigen, was die Einzelnen alles leisten, um Unternehmerin oder Unternehmer zu werden.

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