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Multikulturelle Gesellschaft


Erstellt: 11.10.2018  |  Zuletzt geändert: 27.08.2020, 14:48 Uhr

Die Diskussion über die multikulturelle Gesellschaft verlief zum Teil parallel zu der Debatte über das Selbstverständnis Deutschlands als Einwanderungsland und bewegte sich im Wesentlichen auf zwei Ebenen. Einerseits fand sie auf einer programmatisch-normativen Ebene statt, bei der es darum ging, ob eine multikulturelle Gesellschaft anzustreben sei oder nicht. Andererseits drehte sie sich darum, wie in Deutschland mit der durch Einwanderung entstandenen religiösen, nationalen und muttersprachlichen Vielfalt, also mit der faktisch gegebenen Heterogenität, umzugehen sei. Diese beiden Ebenen wurden in den politischen Auseinandersetzungen häufig nicht auseinander gehalten.  

Gegner*innen der Idee des Multikulturalismus als gesellschaftlichem Leitbild erklärten mit der verharmlosenden Verkürzung "Multi-Kulti" diese für "tot" (der seinerzeitige Ministerpräsident Horst Seehofer im Jahr 2010) oder für "gescheitert" (Bundeskanzlerin Angela Merkel ebenfalls im Jahr 2010). Wiederholt wurde als Gegenentwurf zum Multikulturalismus die Einführung bzw. Normierung einer sogenannten Leitkultur gefordert. Dem wurde von verschiedenen politischen, kirchlichen und wohlfahrtsverbandlichen Seiten entgegengehalten, dass man nicht über ideologisch besetzte Schlagwörter streiten solle, sondern über praktische Fortschritte bei der Herstellung von Chancengerechtigkeit für alle Menschen in Deutschland, unabhängig von ihrer Herkunft, Muttersprache und Religion.  

Zeitweilig gab es in der Integrationspolitik und der Integrationspraxis in Deutschland eine Debatte darüber, ob und ggf. was vom Multikulturalismus im klassischen Einwanderungsland Kanada zu lernen sei. Dabei wurde offensichtlich, dass die politischen Konzepte des seit seiner Gründung mehrsprachigen Landes mit einem gleichberechtigten Nebeneinander autochthoner, französischer und englischer Kulturen nicht ohne weiteres auf Deutschland zu übertragen sind. Deshalb ging es im Endeffekt auch weniger um die Übernahme des Systems als Ganzem als vielmehr um die Übernahme einzelner Aspekte wie zum Beispiel der interkulturellen Bildungsarbeit in Schulen, dem Wohnungsbau in multikulturellen Stadtquartieren oder dem Punktesystem für gesteuerte Einwanderung.  

Bereits seit den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts hatte der Freiburger Politikwissenschaftler und Migrationsexperte Dieter Oberndörfer darauf hingewiesen, dass im modernen Verfassungsstaat die Gewaltenteilung, die Rechtsstaatlichkeit und die Grundrechte dem Schutz der individuellen Freiheit - und damit auch der kulturellen Vielfalt und Dynamik gerade der Religionen und Weltanschauungen - in der Gesellschaft dienen. Mithin sei die Idee einer Leitkultur nicht mit den Prinzipien der Verfassung vereinbar und es bedürfe stattdessen verbindlicher und verbindender Verfassungsnormen, auf die sich im Sinne des von Dolf Sternberger entworfenen Konzepts des „Verfassungspatriotismus“ alle Gruppen und Individuen in der Gesellschaft beziehen könnten und sollten. 

Am kulturellen Pluralismus in der Bevölkerung Deutschlands gibt es statistisch gesehen längst keinen Zweifel mehr. Die Bevölkerungsstatistik des Statistischen Bundesamtes (Destatis) weist für Ende 2019 aus, dass aus 14 europäischen und asiatischen Staaten jeweils mehr als 200.000 Staatsangehörige in Deutschland leben. Die Zahl der Ausländer*innen belief sich insgesamt auf 11,2 Millionen, die der Menschen mit Migrationshintergrund gar auf 20,8 Millionen. Überwiegend durch Migration leben in Deutschland zwischen 4,4 und 4,7 Mio. Menschen islamischen Glaubens. Auch die Anzahl der Angehörigen anderer, nicht traditionell in Deutschland verankerter Religionen, wie zum Beispiel Hindi, Buddhisten oder Yesiden, ist durch Einwanderungsprozesse gestiegen und steigt weiter. Muttersprachliche, religiöse und kulturelle Vielfalt ist somit eindeutig gegeben. Deutschland ist also faktisch ein Land vieler Kulturen. Es ist aber kein Land der rechtlichen, normativen Beliebigkeit. Die Verbindlichkeit des Grundgesetzes und der Rechtsordnung gelten für alle in Deutschland lebenden Menschen, ob eingewandert oder nicht, sowohl hinsichtlich ihrer Rechte als auch ihrer Pflichten.

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