Migrationshintergrund
Der Begriff wurde als statistische Kategorie eingeführt, weil Begriffe wie Ausländerin/Ausländer, Migrantin/Migrant oder Zuwanderin/Zuwanderer nicht mehr als präzise genug empfunden wurden, um die differenzierte Einwanderungswirklichkeit in Deutschland statistisch angemessen abzubilden. So ist der Begriff Ausländerin bzw. Ausländerin nicht geeignet, all diejenigen Menschen zu erfassen, die einmal nach Deutschland eingewandert sind. Denn viele von ihnen, nämlich Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler, sind als Deutsche eingewandert, andere, nämlich Eingebürgerte, sind im Laufe ihres Aufenthalts in Deutschland deutsche Staatsangehörige, also Deutsche, geworden.
Die Unzufriedenheit mit den genannten Begriffen wurde in den späten 1990er-Jahren in erster Linie in der Soziologie und in der Pädagogik formuliert. Spätestens nach dem Bekanntwerden der Ergebnisse der ersten sogenannten PISA-Studie, einer international vergleichenden Schulleistungsuntersuchung der internationalen Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), wurde die Suche nach einem präziseren Begriff verstärkt. Denn in Deutschland wurden die Ende 2001 veröffentlichten Ergebnisse als 'Bildungsschock' diskutiert. Von einigen Kommentatorinnen und Kommentatoren wurde der Grund für die relativ schlechten Ergebnisse des deutschen Bildungssystems in der großen Zahl von 'ausländischen' Kindern gesehen. Im Rahmen dieser Diskussion wiesen Migrationsexpertinnen und -experten auf die Unzulänglichkeit bestehender Begriffe zur Erfassung von Kindern mit Migrationsgeschichten hin. Gerade in den 90ern waren viele Kinder von Spätausgesiedelten nach Deutschland gekommen , die ohne Sprechkenntnisse und ohne Erfahrungen im deutschen Bildungssystem - ähnlich wie Ausländerinnen und Ausländer - besonderer Unterstützung bedurften, aber statistisch – zu Recht – nicht von der Kategorie 'Ausländerin/Ausländer' erfasst wurden. Andererseits wurde angeführt, dass gerade im Bildungs- und Beschäftigungssystem erfolgreiche 'Ausländerinnen/Ausländer' durch Einbürgerung zu Deutschen wurden und damit Integrationserfolge statistisch 'unter den Tisch' fielen. U. a. in einem Gutachten der Professorinnen Ingrid Gogolin und Ursula Neumann und des Professors Hans-Joachim Roth für die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung wurde eine statistische Erfassung auch der Geburtsorte der Eltern und ihrer Kinder anstelle der ausschließlichen Betrachtung des deutschen Passes vorgeschlagen, um auf diese Weise die Migrationserfahrung in der Familie zu einem zentralen Merkmal bei der statistischen Erfassung der Bevölkerung zu machen und damit zu differenzierteren Bildungsanalysen zu kommen.
Mit dem Mikrozensus 2005 wurde erstmals die Kategorie 'Person mit Migrationshintergrund' in die allgemeine deutsche Bevölkerungsstatistik eingeführt. Das führte erstmals auch zu einer entsprechend differenzierten Darstellung der Situation auf dem Arbeitsmarkt, weil zum Beispiel nun auch für Menschen mit Migrationshintergrund Ausbildungsstand und Beschäftigungsstatus erhoben und analysiert werden konnten. Im Jahre 2008 wurden gesetzliche Regelungen im SGB II und im SGB III getroffen, mit denen die Träger der Grundsicherung (SGB II) und die Agenturen für Arbeit (SGB III) zur Erhebung des Merkmals Migrationshintergrund im Rahmen ihrer Leistungsstatistiken verpflichtet wurden.
Die Integrationsministerkonferenz der Länder hat zur einheitlichen Anwendung des Begriffs auf Bundes- wie auf Länderebene empfohlen, die erstmals beim Mikrozensus 2011 verwendete und gegenüber früheren Jahren vereinfachte Definition des Begriffs 'Migrationshintergrund' zu verwenden. Demnach haben jene Personen einen Migrationshintergrund, die
- Ausländer*innen sind oder
- im Ausland geboren und nach dem 31. Dezember 1955 nach Deutschland zugewandert sind oder
- einen im Ausland geborenen und nach dem 31.Dezember 1955 nach Deutschland zugewanderten Elternteil haben.
Durch das unter 3. formulierte Merkmal wurde weitgehend ausgeschlossen, dass auch die Menschen heute statistisch als Menschen mit Migrationshintergrund erfasst werden, die als Folge von Flucht und Vertreibung in den ersten zehn Jahren nach dem 2. Weltkrieg ihren neuen Lebensmittelpunkt in den Grenzen der heutigen Bundesrepublik begründet haben.
Aktuelle Ergebnisse der statistischen Zusammensetzung der Bevölkerung Deutschlands liefert folgende Zusammenfassung durch die Bundeszentrale für politische Bildung: "In Deutschland hat gut jede fünfte Person einen Migrationshintergrund – in Westdeutschland jede vierte, in Ostdeutschland jede sechzehnte Person (2016: 25,5 bzw. 6,4 Prozent). Bezogen auf die Bundesländer leben die meisten Personen mit Migrationshintergrund in Nordrhein-Westfalen (26,2 Prozent). Ihr Anteil an der Bevölkerung ist in Bremen am höchsten (30,5 Prozent). Von allen Personen mit Migrationshintergrund sind rund zwei Drittel selbst eingewandert und ein Drittel ist in Deutschland geboren (68,6 bzw. 31,4 Prozent). Etwas mehr als die Hälfte der Personen mit Migrationshintergrund sind Deutsche (51,8 Prozent). Mittelfristig wird sich der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund weiter erhöhen: 2016 hatten 38,1 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren einen Migrationshintergrund."
Die Bedeutung des Begriffs 'Migrationshintergrund' wird allerdings erst umfassend deutlich, wenn man die statistischen Ergebnisse für diese Kategorie denen der alten Kategorie 'Ausländer' gegenüberstellt:
Im Jahr 2016 waren 9,6 Millionen der insgesamt 18,6 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund Deutsche, die aus der Kategorie 'Ausländer*in' herausfallen. Diese knapp zehn Millionen Menschen, haben vielleicht mehr, vielleicht weniger der integrationspraktischen Unterstützung bedurft, aber sie haben im Ergebnis alle einen sozial und rechtlich erfolgreichen Prozess der gesellschaftlichen Eingliederung und staatsbürgerlichen Anerkennung durchlaufen. Denn der Verleih der deutschen Staatsangehörigkeit ist – außer bei Anspruchsberechtigten wie Spätausgesiedelten – an bestimmte Voraussetzungen wie Straffreiheit, finanzielle Unabhängigkeit von Transferleistungen, Deutschkenntnis usw. gebunden.
Auch, wenn dieser Fortschritt von wissenschaftlicher und politischer Seite gewürdigt wird, gibt es nach wie vor Kritik an der statistischen Erfassung der Einwanderungswirklichkeit in Deutschland. Die Kritiker*innen befürchten, dass der Begriff eher eine Haltung der 'Nicht-Zugehörigkeit' Eingewanderter zum Ausdruck bringt. Währenddessen sind die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder bestrebt, diese Kategorie weiter auszudifferenzieren (zum Beispiel nach 'mit eigener Migrationserfahrung' und 'ohne eigene Migrationserfahrung').