|  Migration / Integration

Einwanderungsland


Erstellt: 11.10.2018  |  Zuletzt geändert: 31.08.2020, 08:55 Uhr

Von einem klassischen Einwanderungsland wird dann gesprochen, wenn seine Entstehungsgeschichte ausschließlich oder überwiegend auf Einwanderung aus anderen Staaten oder Kontinenten zurückgeht. Als klassische Einwanderungsländer gelten die USA, Kanada, Australien und Neuseeland, aber auch Länder wie Argentinien, Brasilien, Israel oder Südafrika. Diesen Ländern ist gemein, dass bereits die Staatengründung mit Einwanderung verbunden war und die Einwanderungsgeschichte ein wesentlicher Bestandteil des jeweiligen nationalen Selbstverständnisses ist. Die Herkunftsvielfalt ihrer Einwohner*innen wird hier in der Regel als soziale, kulturelle und ökonomische Stärke der Gesellschaften empfunden, und die Einwanderungsgesetze sind entsprechend ausgerichtet. Kanada zum Beispiel gilt international als das idealtypische Einwanderungsland, in dem Einwanderung seit Jahrzehnten systematisch gefördert wird und in dem auf der Basis des Multikulturalismus-Gesetzes aus dem Jahre 1988 ein Leitbild der Stärke durch Vielfalt für Staat und Gesellschaft existiert (siehe Multikulturelle Gesellschaft). 

Auch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind durch Migrationsbewegungen der letzten Jahrzehnte geprägt. In Staaten wie Frankreich, England oder Spanien schlagen sich zudem die Folgen ihrer Zeit als Kolonialmächte deutlich in der Bevölkerungszusammensetzung nieder, weil viel Menschen aus ehemaligen Kolonien dort leben. Trotz ihrer Prägung durch Einwanderung werden diese Staaten jedoch nicht zu den klassischen Einwanderungsländern gezählt, weil die Eingewanderten dort mehr oder weniger als ‚Hinzugekommene‘ zur Stammbevölkerung, nicht aber als eine Gruppe unter vielen gelten, die das Einwanderungsland geprägt haben und prägen.

Auch Deutschland ist seit Langem erheblich von Einwanderung geprägt. So wurde zum Beispiel Ende des 19. Jahrhunderts das Ruhrgebiet zur neuen Heimat für Einwander*innen aus Polen. In den 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts prägte die Arbeitsmigration von den sogenannten Gastarbeiter*innen und der Zuzug ihrer Familienangehörigen (siehe Familiennachzug) das Land. In den 80er-Jahren kamen vor allem Geflüchtete aus kurdischen und anderen nahöstlichen Gebieten, Vertragsarbeitnehmer*innen aus Vietnam und Südamerika und in den 90er-Jahren u. a. Spätaussiedler*innen sowie jüdische Kontingentflüchtlinge aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Im 20. Jahrhundert war es zunächst die Einwanderung von Unionsbürger*innen in erster Linie aus den neuen osteuropäischen Mitgliedstaaten der EU, zunehmend kamen aber auch Menschen aus ökonomisch bedingten Krisenländern wie Griechenland, Portugal und Spanien, bis etwa ab 2014 die Zahl der schutzsuchenden Geflüchteten aus nahöstlichen, asiatischen und afrikanischen Ländern massiv anstieg.

Bereits in seinem Memorandum "Stand und Entwicklung der Integration ausländischer Familien und ihrer Angehörigen" aus dem Jahre 1979 hatte der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung (siehe Beauftragte*r der Bundesregierung für Migration und Flüchtlinge), der ehemalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Heinz Kühn, die Anerkennung der faktischen Einwanderung als unumkehrbare Entwicklung zu seiner zentralen Forderung gemacht. Aber es dauerte noch Jahrzehnte, bis diese Erkenntnis allgemein geteilt wurde. 

Zwischen 1991 und 2016 weist die Wanderungsstatistik des Statistischen Bundesamt (Destatis) einen Zuzug von insgesamt rund 22 Millionen Ausländer*innen aus, dem ein Fortzug von rd. 15, 6 Millionen Ausländer*innen gegenübersteht. Der Wanderungsgewinn - oder auch die Netto-Zuwanderung - betrug in diesem Zeitraum rd. 6,4 Millionen (siehe Demografischer Wandel). Dies entspricht knapp 8 Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands. Lediglich in den Jahren 1997 und 1998 lag – vor allem wegen der Rückkehr vieler Kriegsflüchtlinge aus dem Balkan in ihre Herkunftsländer – der Fortzug von Ausländerinnen und Ausländern höher als der Zuzug.

Diese Zahlen belegen die Einwanderungsrealität in Deutschland. Gleichwohl herrschte noch lange zwischen den demokratischen Parteien ein Dissens bezüglich der Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei. Zwar wurde anerkannt, dass Deutschland rein faktisch Einwanderung erfahre, doch wurde negiert, dass es damit zugleich auch ein Einwanderungsland sei. Bezüglich dieses Widerspruchs sprach der renommierte Migrationsforscher Klaus J. Bade von Deutschland als "Einwanderungsland wider Willen". Erst am 1. Juni 2015 machte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Rahmen einer Diskussion mit Bürger*innen im Berliner Kulturbrauhaus deutlich, dass auch für die CDU die Einwanderungsrealität unumkehrbar sei. Laut Zeitungsberichten sagte die Bundeskanzlerin bei der Eröffnung einer Reihe von Bürgerdialogen zum Thema "Gut Leben in Deutschland - was uns wichtig ist." den Satz: "Wir sind im Grunde schon Einwanderungsland." 

Mit dem politischen Anwachsen des Rechtspopulismus in Deutschland steht dieser Konsens wieder zunehmend unter Druck. Dabei ist angesichts des demografischen Wandels unumstritten, dass Deutschland ohne zusätzliche Einwanderung an Konkurrenzfähigkeit im internationalen ökonomischen Wettbewerb verliert und die Sicherheit der Sozialversicherungssysteme gefährdet ist. Denn Bevölkerungsprognosen machen deutlich, dass auf mittlere und lange Sicht die Bevölkerung Deutschlands weiter abnehmen, der Anteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter sinken und der Anteil der älteren und alten Menschen steigen wird. Selbst Einwanderung kann dieser Trend lediglich verlangsamen, nicht aber verhindern. Um allerdings die Konkurrenzfähigkeit im internationalen Wettbewerb zu erhalten, so die überwiegende Meinung in Politik und Gesellschaft, muss Deutschland auch rechtlich nachvollziehen, dass es ein Einwanderungsland ist. Dass es eines Gesetzes zur Steuerung von Einwanderung bedarf, ist kaum noch umstritten. Allerdings ist noch offen, welche Einwanderung in welchem Umfang und mit welchen Methoden und Instrumenten gesteuert werden soll.

X