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Brain Drain, Brain Gain, Brain Circulation, Triple Win


Erstellt: 11.10.2018  |  Zuletzt geändert: 09.09.2020, 14:39 Uhr

Brain Drain (wörtlich: Abfluss von Gehirn) bezeichnet die Auswanderung hoch qualifizierter Fachkräfte wie Akademiker*innen, Wissenschaftler*innen sowie anderer Fach- und Führungskräfte in andere Länder oder Regionen. 

Erstmals verwendete die British Royal Society 1962 diesen Begriff für die Abwanderung von Wissenschaftler*innen sowie Ingenieur*innen von Großbritannien nach Nordamerika. 

Die Gründe, warum Fachkräfte ihre Heimat verlassen, sind vielfältig und komplex: schlechte Arbeitsbedingungen, geringe Bezahlung, fehlende Karriere- oder Weiterbildungschancen, mangelnde wirtschaftliche Perspektiven oder politische Gründe (eingeschränkte Presse-, Meinungs-, Informationsfreiheit, politische Verfolgung, Instabilität der Herkunftsregion usw.). 

Die Auswirkungen der Abwanderung sind mitunter fatal: Wandern Hochqualifizierte oder Unternehmer*innen in großer Zahl ab, hat ein Land kaum eine Chance, sich positiv zu entwickeln und im internationalen Wettbewerb Anschluss zu finden. Es entstehen Fachkräfteengpässe, die Steuern besser Verdienender fehlen, es mangelt an Innovation und volkswirtschaftlichen Investitionen. Besonders dramatisch ist die Lage im Gesundheitssektor, da das meist unter großem finanziellem Aufwand ausgebildete medizinische Personal der Bevölkerung nicht mehr zur Verfügung steht. Diese Sicht auf die Folgen qualifizierter Migration beherrschte in den 1970er und 1980er-Jahren den weltweiten Diskurs über internationale Arbeitskräftemigration. Die vorherrschende Dependenztheorie erklärte die Entwicklungsländer zu Wanderungsverlierern, zu den Opfern der Einwanderungspolitik großer Industrienationen. 

Brain Gain: Diese pessimistische Sicht wich einem optimistischeren Ansatz, der auch die positiven Auswirkungen in den Vordergrund stellte: Ein Brain Drain auf der einen Seite bedeutet immer auch einen Brain Gain (wörtlich: Zugewinn von Gehirn) auf der anderen Seite. Verliert ein Land Hochqualifizierte, gewinnt ein anderes durch die Einwanderung Know-how und Innovationspotenzial. 

Brain Circulation: In den 1990er-Jahren nahm die Diskussion über den Zusammenhang von Migration und Entwicklung eine neue Richtung. Wurde die Emigration von Hochqualifizierten aus Entwicklungsländern bis dahin zumeist als abgeschlossener Prozess gesehen, der für die Abgabeländer (zumeist Entwicklungsländer) in einem „Humankapitalverlust“ (Brain Drain) und für die Aufnahmeländer (zumeist Industrieländer) in einem „Humankapitalgewinn“ (Brain Gain) resultiert, wurde die Migration von Hochqualifizierten bzw. Eliten mehr und mehr als ein zirkulärer Prozess der Hin- und Her- bzw. Weiterwanderung angesehen (Brain Circulation), von dem nicht nur die Industrieländer, sondern auch die Entwicklungsländer profitieren können. Ebenso wie die Industrieländer können auch Entwicklungsländer einen Brain Gain erwarten, falls die Elite in ihr Herkunftsland zurückkehrt und dort ihr im Industrieland gewonnenes Know-how und Kapital sowie ihre Netzwerkkontakte in den Entwicklungsprozess einbringt. In dem Fall können Unternehmensgründungen, Investitionen, Transfer von Know-how und Technologie und die Diaspora-Netzwerke der Rückkehrer einen Entwicklungsschub bewirken. Überdies tragen Rücküberweisungen von Geld durch die in einem anderen Land lebenden Migrant*innen maßgeblich zur Entwicklung im Herkunftsland bei. Für alle Entwicklungsländer zusammen beliefen sich zum Beispiel laut einem Bericht der Weltbank im Jahr 2009 die Rücküberweisungen im Jahr 2007 auf etwa 285 Milliarden US-Dollar – mehr als doppelt so viel wie die gesamte öffentliche Entwicklungshilfe der Industrienationen im selben Jahr. Diesem Ansatz zufolge muss es Ziel sein, langfristig eine win-win-Strategie für Abgabe- und Aufnahmeländer zu etablieren, von der alle profitieren.

Triple Win: Die Gründung des Global Forum on Migration & Development 2006 ebnete in den internationalen Debatten den Weg auf eine positive Sicht auf die Potenziale von Fachkräftemigration. Der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan prägte hier den Begriff "Triple Win" entscheidend mit. Migration entfaltet demzufolge ihr volles positives Potenzial nur dann, wenn - neben dem Arbeitsmarktbedarf in den Einwanderungsländern - auch die Entwicklungschancen des Herkunftslandes und die der Einwanderin bzw. des Einwanderers berücksichtigt werden. Also ein Gewinn für alle (drei) Beteiligten generiert wird. Dieser "Triple Win" (wörtlich: dreifacher Gewinn) sorgt für mehr Fairness bei der Migrationsgestaltung. Um einen solchen Nutzen erzielen zu können, sind zum Beispiel bilaterale Abkommen ein wichtiges Instrument, bei denen Partnerländer auf Grundlage transparenter und entwicklungsorientierter Kriterien ausgewählt werden. 

Brennan und Wittenborg, die sich im Auftrag der Bertelsmann Stiftung intensiver mit dem Thema befasst haben, beschreiben den dreifachen Gewinn wie folgt:

"1. Für das Herkunftsland liegen die Vorteile in der Entlastung des heimischen Arbeitsmarktes, da überschüssige Fachkräfte sowie Arbeitskräfte, die in den Herkunftsländern nicht gemäß ihrer Qualifikationen arbeiten, ihre Kompetenzen verschwenden (siehe Brain Waste). Zudem entstehen neue internationale Verbindungen und Kontakte sowie ein Zugewinn an Wissen und Fähigkeiten durch die Einbindung der qualifizierten Migranten im Ausland. Weiterhin wird Armut reduziert und die Handelsbilanz durch Geldtransfers der Migranten (Remittances) ausgeglichen. 

2. Für das Aufnahmeland ergeben sich Produktivitätszuwächse durch die Verringerung von Fachkräfteengpässen und die Zunahme interkultureller Vielfalt. 

3. Migranten und ihre Familien profitieren von Arbeitsmigration unter guten Rahmenbedingungen durch individuelle Weiterentwicklung, Zugang zu neuen Beschäftigungsmöglichkeiten sowie bessere finanzielle Risikoabsicherung. Die Fachkräfte erhöhen durch ihre Botschafter- und Vermittlerfunktion die Verflechtung zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland. Im Fall einer Rückkehr tragen sie, dank ihrer erlernten Kompetenzen und Erfahrungen mit Innovationspotenzial, zur Entwicklung im Herkunftsland bei. Die langfristig positiven Effekte von Migrationsbewegungen für das Herkunftsland bezeichnet man auch als Brain Gain." 

Das Bestreben, gerade Hochqualifizierte für das eigene Land zu gewinnen, ist weltweit groß, man spricht in diesem Kontext auch vom "War for talents" (wörtlich: Kampf um Talente). Ob Hochqualifizierte in ein Land kommen, wird maßgeblich von der Einwanderungspolitik geprägt: Viele Industrieländer wünschen sich zwar, dass mehr Fachkräfte kommen, um dem oft durch Alterung bedingten Fachkräftemangel (entgegenzuwirken, doch die politischen Auflagen stehen oft nicht im Einklang damit, sondern verhindern Zuwanderung. 

Auch Deutschland ist vom Brain Drain betroffen, weil sich viele, gerade hoch Qualifizierte in anderen Ländern bessere Karrierechancen, angenehmere Arbeitsbedingungen, ein höheres Gehalt und mehr Anerkennung versprechen. Gemäß Ärztestatistik der Bundesärztekammer haben im Jahr 2016 1.206 deutsche Ärzt*innen (dauerhaft oder übergangsweise) Deutschland verlassen, im Jahr 2017 waren es 1.165. Besonders beliebte Auswanderungsländer sind die Schweiz, Österreich und die USA. Die Zuwanderung aus dem Ausland sorgt hier für Entlastung: Laut Ärztestatistik ist die Zahl der in Deutschland gemeldeten Ärzt*innen aus EU-Ländern und aus sogenannten Drittländern im Jahre 2017 um 4.088 auf 50.809 gestiegen. Mehr als eine Mio. Euro kostet es laut dem Münchner Ifo-Institut zufolge den/die deutschen Steuerzahler*in, wenn zum Beispiel eine 30-jährige Ärztin dauerhaft ins Ausland geht. Angesichts eines erklärten Fachkräftemangels in Deutschland werben Organisationen wie die German Scholars Organization (GSO) oder Return to Bavaria um Rückkehrer*innen, einzelnen in der Schweiz tätigen Hochschulprofessor*innen bot die GSO bis zu 100.000 Euro für ihre Rückkehr.

Insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels in Europa ist Deutschland mittelfristig auf qualifizierte Einwanderung aus Drittstaaten angewiesen. Laut einer Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aus dem Jahr 2015 entwickelt sich Deutschland durch die Änderungen der Zuwanderungsregelungen seit 2005 (siehe Zuwanderungsgesetz) und dem Bekenntnis von Politik- und Wirtschaftsvertretern zur gesteigerten Anwerbung von qualifizierten Fachkräften aus dem Ausland zu einem zuwanderungsfreundlichen Land, das auch Hochqualifizierten einen attraktiven Beschäftigungsort bietet und entsprechende Maßnahmen zur Förderung ihrer Zuwanderung umsetzt. Diese Entwicklung wird durch Bemühungen zur Schaffung einer allgemeinen Willkommens- und Anerkennungskultur (siehe Willkommenskultur) in Gesellschaft, Unternehmen und Verwaltung, unterstützt.

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